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Mit großem Besteck (3): Gefühl und Verstand

Liebe Theater, was ihr habt, das zeigt auch! Sechs weitere Musicals mit allem Drum und Dran - politisch, satirisch, märchenhaft.

PIPPIN - DIE KUNST DES LEBENS an der Staatsoperette Dresden (Foto: Pawel Sosnowski)

PIPPIN an der Staatsoperette Dresden (2023)

ANATEVKA an der Komischen Oper Berlin (2017)

ANATEVKA am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken (2023)

BRIGADOON am Theater Hof (2023)

Einführung TSCHITTI TSCHITTI BÄNG BÄNG im Staatstheater am Gärtnerplatz München (2014)

Trailer TSCHITTI TSCHITTI BÄNG BÄNG im Staatstheater am Gärtnerplatz München (2014)

VIEL LÄRM UM LIEBE (THE FIREBRAND OF FLORENCE) an der Staatsoperette Dresden (2013)

THE PRODUCERS in Hagen (2023)

THE PRODUCERS in Leipzig (2023)

Für Ungeduldige - direkt zu den Stückinfos:

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PIPPIN - DIE KUNST DES LEBENS ist eine Coming-of-Age-Geschichte in historischem Gewand. Der Titelheld ist ein lustloser, wechselhafter Thronfolger, wird von seinem Vater nicht ernst genommen und beschließt, sein Leben selbst zu gestalten. Er muss einsehen, dass es nicht immer erstrebenswert ist, etwas Besonderes zu sein. Das Musical von Stephen Schwartz zeichnet sich dadurch aus, dass diese Haupthandlung von einer Prinzipalin fortwährend manipuliert will, die Pippin eher zum Showstar als zum erwachsenen Mann machen will. Schwartz' Musik war in der letzten Produktion - in der Staatsoperette Dresden - in einer neuen, großen Orchestration zu hören, die dem zu Unrecht ein wenig in den Hintergrund geratenen Musical alle Ehre machte.

Über ANATEVKA ist eigentlich alles gesagt, sollte man denken. Wer hätte aber gedacht, dass die Geschichte jüdischen Lebens im alten Russland noch einmal geradezu mehrdimensionale Aktualität entfaltet? Die zeitlosen Werte dieses über Jahrzehnte gleichmäßig erfolgreichen Musicals werden dadurch nur noch unterstrichen: Eine Dorfgemeinschaft wird durch den autoritären Eingriff der Machthaber zerstreut, eine Familie zerrissen, die schon zuvor Schritt für Schritt die Herausforderungen der Zeitläufte bewältigen musste. Das Beste, was das Genre Musical kann, ist in ANATEVKA exemplarisch zusammengefasst: Es spricht Gefühl und Verstand zugleich an, bringt ein Publikum zum Lächeln, zum Weinen - und zum Nachdenken.

BRIGADOON ist eine nostalgische, märchenhafte, romantische Komödie aus alten Zeiten - im doppelten Sinne: Der erste große Erfolg des genialen Gespanns Frederick Loewe (Musik) und Alan Jay Lerner (Texte) war 1947 am Broadway ein Lichtblick in unruhigen Zeiten. Dass spätere Werke der Autoren berühmter wurden, kann man BRIGADOON nicht vorwerfen, und die Aufführung in neuer Übersetzung am Theater Hof hat so manche in Publikum und Presse überrascht: "Die Musik pendelt zwischen schottischen Weisen, rhythmischem Swing, klassischen Revue-Nummern und witzigem Soundtrack", schrieb die Musicalzentrale. Ein gewichtiges Argument für Ensembletheater: Klassisch geschulte Stimmen finden hier dankbare Aufgaben, von Chor und Orchester ganz zu schweigen.

Auch TSCHITTI TSCHITTI BÄNG BÄNG hat eine märchenhafte Grundierung und spricht alle Generationen an. Mit einem fliegenden Auto, einem schrulligen Erfinder, der zugleich ein toller Vater ist, einer zauberhaften weiblichen Hauptfigur und einem richtig bösen (in Wahrheit urkomischen) Paar von Gegenspielern sind alle Zutaten für einen unterhaltsamen Abend (oder Nachmittag) versammelt. Das Musical entstand nach dem gleichnamigen Film und wurde in deutscher Sprache bisher am Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz und am Theater Altenburg-Gera aufgeführt, eine Produktion am Landestheater Detmold steht aktuell bevor. "Das Stück lebt nicht nur von seiner fantasiereichen Geschichte, sondern auch von den vielfältigen Charakteren", hieß es anlässlich der Münchner Premiere in der Musicalzentrale, "unzählige Melodien bleiben noch lange nach dem Verlassen des Theaters im Ohr".

VIEL LÄRM UM LIEBE kam als Broadway-Operette im Frühjahr 1945 zur Unzeit - Kurt Weill konnte mit der Benvenuto-Cellini-Story damals keinen großen Erfolg verbuchen. Was für ein musikalischer Schatz dieses Werk ist, das virtuos mit Operettenklischees spielt und sie in zeitgemäßen Klang verpackt, wurde erst Jahrzehnte später mit einer Konzertfassung in London und der ersten szenischen Aufführung in Europa an der Staatsoperette Dresden deutlich. Auch hier kann ein Staats- oder Stadttheater zeigen, was es hat: Die weiblichen Partien müssen nicht gebeltet werden und auch den männlichen Rollen stehen klassische Stimmen gut an. Die Deutsche Bühne schrieb zur Dresdner Premiere: "Da mischt Weill in der langen Anfangsszene Chor, Duette und Soli sehr wirkungsvoll durcheinander, erklingen gefällige Liebes-Duette neben breit gemalter Filmmusik, wechseln schroffe Bläserakzente mit hellen, rhythmischen Swingklängen". 

Das Musical THE PRODUCERS traf in Deutschland zunächst auf Skepsis, ist aber umso nachhaltiger ins Repertoire eingegangen. Darf man also über eine Nazi-Parodie lachen? Ja, man darf, wenn sie so zielsicher ist wie in diesem Stück des Altmeisters Mel Brooks. Nazis und Altnazis werden sarkastisch auf die Schippe genommen, auch eitle Musicalproduzenten, schüchterne Buchhalter, radebrechende Sexbomben und tuntige Choreografen bekommen eine saftige Portion Ironie ab, während  lustvolle Seniorinnen mit ihren Rollatoren dazu tanzen. Das brillante Ergebnis war bisher in rund zehn Neuproduktionen zu erleben und steht aktuell in Hagen und Leipzig auf dem Spielplan.

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Die beiden anderen Folgen unserer Serie "Mit großem Besteck":

  1. Aus berühmten Büchern
  2. Geschichten aus dem Leben

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