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A Work of Art: Ein Blick auf 60 Jahre ANATEVKA

Vor 60 Jahren, in der Broadway-Spielzeit 1964/65, feierte das Musical ANATEVKA in New York Premiere. Die perfekte Gelegenheit für einen Rückblick auf die Geschichte dieses Musicalklassikers.

ANATEVKA in Saarbrücken (Foto: Saarländisches Staatstheater/Martin Kaufhold)

ANATEVKA in Düsseldorf (Foto: Deutsche Oper am Rhein/Sandra Then)

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Knapp 50.000 Menschen sahen im deutschsprachigen Raum in der Spielzeit 2022/23 eine Vorstellung von ANATEVKA, wie ein Blick in die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins verrät.

Das Stück aus der Feder von Jerry Bock (Musik), Sheldon Harnick (Liedtexte) und Joseph Stein (Buch) zählt ohne Frage zu den populärsten Musicals hierzulande und nimmt in den Besuchsstatistiken regelmäßig eine Spitzenposition ein.

Aus jüdischer Weltliteratur wird ein Musical

Bei solch einem überwältigenden Erfolg ist es nur schwer vorstellbar, dass die Autoren bei der Originalproduktion 1964 befürchteten, das Werk könne durchfallen. Dies lag jedoch vermutlich mehr am nervenaufreibenden Entstehungs- und Probenprozess als an der künstlerischen Qualität des Musicals – immerhin bestand das Kreativteam von ANATEVKA aus den führenden Köpfen der damaligen Musicalszene.

Bereits seit 1960 beschäftigte sich das Erfolgsduo Bock und Harnick (SHE LOVES ME, THE APPLE TREE), das für ihr Musical FIORELLO! sogar mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden war, mit einer Bühnenadaption der beliebten Geschichten um den Milchmann Tevje des jüdischen Autors Scholem Alejchem.

Zusammen mit Buchautor Joseph Stein (THE BAKER’S WIFE, RAGS) erarbeiteten sie eine erste Fassung des Musicals, das Stück wurde jedoch – mangels Finanzierungsmöglichkeiten – zunächst zugunsten anderer Projekte zurückgestellt.

Erst nachdem sich Produzent Harold Prince (COMPANY, EVITA) und Starregisseur Jerome Robbins (WEST SIDE STORY) bereit erklärten, an dem Projekt mitzuwirken, wurde die Arbeit an der Show wieder aufgenommen. Robbins hat dabei nicht nur inszenatorische Impulse, sondern auch wesentliche inhaltliche Akzente gesetzt.

„What is this show about?“

So konfrontierte Robbins das Autorenteam beispielsweise während der Proben (als das Stück noch nicht fertiggestellt war) wiederholt mit der Frage, worum es in der Show eigentlich gehe. Es genügte ihm nicht, nur die Geschichte eines Milchmannes zu erzählen, der Ehemänner für seine Töchter sucht, oder das Leben in einem jüdischen Schtetl zu Beginn des 20. Jahrhunderts darzustellen – Robbins wollte dem Musical vielmehr einen universellen Anspruch verleihen.

Im Verlauf der Produktionsgespräche kristallisierte sich heraus, dass das Verhältnis von Tradition und Fortschritt das eigentliche Thema des Stücks ist. Rückblickend fasst Joseph Stein ANATEVKA als Erzählung „von der Auflösung einer Dorfgemeinschaft und dem Zusammenbruch der Tradition unter dem Ansturm einer feindlich gesinnten Umwelt“ zusammen.

Die unmittelbarste Konsequenz dieses neugefundenen Grundkonzepts der Show bildet der Song „Tradition“, den die Autoren als Eröffnungsnummer in das Musical integrierten, um die Zuschauer mit den Gebräuchen der jüdischen Gemeinschaft im fiktiven Dorf Anatevka vertraut zu machen.

Der Umgang mit Tradition als universelles Thema

Das Thema der Bedeutung und des Umgangs mit Tradition zieht sich durch das gesamte Stück und findet sich besonders prominent in Tevjes Zwiegesprächen mit Gott. Dieses universelle Sujet ist – neben der herausgehobenen künstlerischen Qualität von Musik, Liedtexten und Buch – wohl auch einer der zentralen Gründe für die langanhaltende Popularität des Musicals.

Seine Premiere feierte FIDDLER ON THE ROOF, wie das Stück in Anlehnung an die berühmten Gemälde Marc Chagalls (wie „The Fiddler“) im Original heißt, am 22. September 1964 im New Yorker Imperial Theatre. Obwohl die Kritiken der Premierennacht eher verhalten bis gemischt waren, strömte das Publikum in die Show.

Richard Altman berichtet in seinem als „The Making of a Musical“ publizierten Rückblick auf die Proben von ANATEVKA, dass sich direkt am Tag nach der Premiere eine gigantische Schlange vor dem Theater gebildet hatte und Interessenten bis zu drei Stunden warten mussten, ehe sie ein Ticket erwerben konnten.

Beliebt bei Profis und Amateuren

Die Originalproduktion von FIDDLER ON THE ROOF mit Broadway-Legende Zero Mostel in der Hauptrolle wurde 3.242 Mal in New York aufgeführt – damals ein Längenrekord am Broadway – und mit neun Tony Awards ausgezeichnet. Das Musical konnte nach diesen Erfolgen auch die Kritiker überzeugen. So ist etwa in der Daily News 1964 zu lesen, ANATEVKA sei „one of the great works of the American musical theatre. It is darling, touching, beautiful, warm, funny and inspiring. It is a work of art.“

Es folgten umjubelte Produktionen auf der ganzen Welt, unter anderem in London mit Chaim Topol, der auch in der bekannten Filmfassung von 1971 Tevje spielt.

Die deutschsprachige Erstaufführung des Musicals fand am 1. Februar 1968 unter dem Titel ANATEVKA am Hamburger Operettenhaus mit Shmuel Rodensky in der Hauptrolle statt. 1971 inszenierte Walter Felsenstein das Stück an der Komischen Oper Berlin, ein Meilenstein der Geschichte des Musicals in der DDR.

Seither haben zahllose große wie kleine Bühnen im deutschsprachigen Raum ANATEVKA in ihre Spielpläne aufgenommen. Gerade im Amateurbereich – sei es an Schulen, bei Laientheatergruppen oder bei Gesangsvereinen – erfreut sich ANATEVKA größter Beliebtheit. Allein zwischen 2010 und 2020 fanden rund 140 unterschiedliche Amateur-Produktionen des Musicals statt.

Pressestimmen zu den jüngsten Produktionen

Dass das Musical in den 60 Jahren seit seiner Uraufführung nichts von seiner Faszination verloren hat, unterstreichen die zahlreichen Inszenierungen, die sich noch jetzt jedes Jahr finden. In der Spielzeit 2023/24 war ANATEVKA beispielsweise am Saarländischen Staatstheater zu sehen. Kurt Bohr erklärte anlässlich dieser Produktion im OPUS Kulturmagazin, dass das Musical den „Nerv unserer Zeit in ganz besonderem Maße“ treffe.

Auch in ihrer Besprechung der Düsseldorfer ANATEVKA-Produktion an der Deutschen Oper am Rhein 2024 hebt Daniela Hennen in der Musicalzentrale die Aktualität des Werks hervor: „Emanzipation der Frauen, Abwägen von Tradition und Weiterentwicklung, politische Verfolgung und auch Glaubensfragen – all dies sind Konflikte, denen Tevje und seine Familie sich stellen müssen und die auch der heutigen Gesellschaft nicht fremd sind.“

Marlene Drexler zeigt sich beim MDR Kulturdesk von der „Vielschichtigkeit“ des Werks, das sie im Rahmen der Erfurter Domstufen-Festspiele 2024 rezensierte, begeistert: „Zum einen ist ANATEVKA ein Familienstück und liefert ganz universelle Anknüpfungspunkte. Zum anderen ist es ein hochpolitischer Stoff.“

Auch 2025 ist ANATEVKA natürlich auf den deutschsprachigen Spielplänen vertreten. Zuletzt feierte das Werk im Februar in Plauen Premiere, ab 7. Juni ist der Musicalklassiker dann auf der Felsenbühne in Rathen zu sehen.

Text: Dr. Patrick Mertens

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Zum Weiterlesen:

Richard Altman: „The Making of a Musical“, New York 1971.

Philip Lambert: „To Broadway, To Life! The Musical Theatre of Bock and Harnick“, Oxford, New York 2011.

Patrick Mertens: „Inszenierung von Tradition. Untersuchungen zur Prologsequenz des Musicals ‚Fiddler on the Roof (Anatevka)‘“, in: „Die Tonkunst“ (Ausgabe April 2015), S. 201–206.


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