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THE APPLE TREE: Das etwas andere Bibel-Musical - und mehr Biblisches

Zur Entstehungszeit geradezu experimentell angelegt, wirkt THE APPLE TREE heute nostalgisch-liebenswert. Nun ist das dreiteilige Musical neu zu entdecken.

THE APPLE TREE - VARIATIONEN ÜBER DIE VERSUCHUNG in Bremerhaven (Fotos: Stadttheater/Heiko Sandelmann)

Der Song "Gorgeous" aus PASSIONELLA, dem dritten Teil von THE APPLE TREE

Der Choreograf Andy Blankenbuehler über seine Arbeit am Broadway-Revival von THE APPLE TREE (2006)

Der Autor Sheldon Harnick im Gespräch (2011)

Die Autoren Jerry Bock und Sheldon Harnick im Gespräch mit David Zippel (2010)

SHE LOVES ME (Der Titelsong aus dem Broadway-Revival)

ANATEVKA an der Komischen Oper Berlin (2017)

JESUS CHRIST SUPERSTAR am Oldeburgischen Staatstheater (2017) und am Staatstheater Nürnberg (2024)

GODSPELL (Wavestage Theatre Company 2019)

JOSEPH AND THE AMAZING TECHNICOLOR DREAMCOAT am Kennedy Center (2014)

LAST PARADISE LOST (Trailer der Gruppe VandenPlas, Koproduktion Theater Münster/Pfalztheater Kaiserslautern)

CHILDREN OF EDEN (Theater Casa Mañana, Fort Worth, Texas, 2016)

"Magische Töne" aus DIE KÖNIGIN VON SABA, Mingjie Lei, Tenor / Cardiff Singer of the World 2019)

Für Ungeduldige geht es hier direkt zu den Stückinfos:

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Jerry Bock (1928–2010) und Sheldon Harnick (1924–2023) sind – gerade im deutschsprachigen Raum – vor allem für ihren Musical-Meilenstein ANATEVKA berühmt. Das Autoren-Duo hat jedoch eine ganze Reihe von weiteren Broadwayhits verfasst, darunter LIEBESBRIEF NACH LADENSCHLUSS (oirg. SHE LOVES ME, 1963) oder das mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete FIORELLO! (1959). Zum Oeuvre von Bock und Harnick zählen zudem experimentelle Musicals wie THE APPLE TREE, das am 16. März am Stadttheater Bremerhaven seine deutschsprachige Erstaufführung feiert.

Bei THE APPLE TREE handelt es sich eigentlich um drei Mini-Musicals, die sich durch ein gemeinsames Thema kennzeichnen: Versuchungen in den verschiedensten Variationen bzw. die Frage, ob man das, was man begehrt, wirklich möchte. Die Idee zu diesem Musical hatten die Autoren bereits 1964, unmittelbar nach der erfolgreichen Broadway-Premiere von ANATEVKA. Statt eines gewöhnlichen Musicalstoffes, der nicht selten für eine abendfüllende Show aufgebläht werden muss, wollten sie – ganz dem Zeitgeist eines Erstarkens kürzerer Erzählformen (durch das immer beliebtere Fernsehen) entsprechend – kleinere Geschichten in den Fokus nehmen und so neue dramatische Möglichkeiten im Musical ausloten. Die Auswahl der Geschichten gestaltete sich allerdings schwieriger als erwartet und sollte bis Juni 1965 dauern. Hier hatten sich die beiden schließlich für drei Werke amerikanischer Autoren entschieden, in denen die Beziehung zwischen Männern und Frauen im Fokus steht.

Der erste Teil des Abends geht auf zwei Publikationen Mark Twains zurück: „Auszüge aus Adams Tagebuch“ (1893) sowie „Evas Tagebauch“ (1905), die von den Autoren (und ihrem Mitarbeiter Jerome Coppersmith) zu einem einzigen Erzählstrang kondensiert wurden. Inhaltlich stellt „Das Tagebuch von Adam und Eva“, wie Bock und Harnick den Eröffnungsteil ihres Musicals nannten, eine humoristische Version des biblischen Sündenfalls dar, in dem die beiden Protagonisten als übertrieben stereotypes Ehepaar gezeichnet werden. Musikalisch ist dieser Abschnitt durch eine dichte melodische wie harmonische Verzahnung sowie eine für ein Musical dieser Zeit ebenso untypische wie faszinierende, leitmotivische Konstruktion geprägt.

Der zweite Teil der Show, ein „intellektueller Witz“, wie ihn Harnick einst bezeichnete, basiert auf Frank R. Stocktons „The Lady, or the Tiger?“ (1884). Die Geschichte um eine Prinzessin, die sich entscheiden muss, ob ihr Geliebter eine andere heiraten oder von einem Tiger gefressen werden soll, ist eine wilde Mischung aus Jazz-Oper und pseudo-mittelalterlichem Bänkelsang. Unerwartet gut gelingt es Bock und Harnick durch textliche wie musikalische Verweise eine Verknüpfung zwischen der energetischen Satire und dem biblischen Sündenfall aus dem ersten Teil zu schaffen und so eine dramatische Einheit zu formen.

„Passionella“ wiederum, eine Cinderella-Story basierend auf einem Comic Jules Feiffers, erzählt im letzten Teil der Show von einer Schornsteinfegerin, die sich in einen gefeierten Filmstar verwandelt und schließlich ihren Prince Charming trifft. Musikalisch verbeugen sich Bock und Harnick hier unverkennbar vor den großen Soundtracks aus Hollywood und integrieren gleichzeitig, wie in kaum einem ihrer anderen Werke, zeitgenössische Musikidiome in die Partitur.

All diese drei ganz unterschiedlichen und doch thematisch einander ergänzenden Geschichten werden von Bock und Harnick in THE APPLE TREE meisterhaft zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt. Der Titel des Musicals verweist dabei klar auf die biblische Schöpfungsgeschichte, die im ersten Teil des Abends nacherzählt wird. Laut Harnick erklärt sich der Titel wie folgt: „Jede der Geschichten beinhaltet eine teufelsartige Figur und in jeder der Geschichten geht es um einen Mann, der von einer gerissenen Frau verführt wird.“ Unter der Regie von Mike Nichols, der sich später mit Filmen wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (1966) oder „Die Reifeprüfung“ (1967) zu einem wahren Meister von Beziehungsdramen entwickeln sollte, feierte THE APPLE TREE am 18. Oktober 1966 im New Yorker Shubert Theatre seine Premiere und erlebte dort 463 Vorstellungen.

Am Stadttheater Bremerhaven wird THE APPLE TREE erstmals vollständig in deutscher Sprache gezeigt (Übersetzung Hartmut H. Forche). Der eigens dafür erfundene Untertitel „Variationen über die Versuchung“ deutet an, dass der biblische Stoff des ersten von drei Teilen, „Das Tagebuch von Adam und Eva“, zwar der Ausgangspunkt für alles Weitere ist. THE APPLE TREE sei aber „kein religiöses Stück“, sagt der Dramaturg Torben Selk: „Vielmehr steht der spielerische Umgang mit alltäglichen Zwickmühlen und Sehnsüchten im Zentrum. Und da fügt sich Mark Twains Satire überraschend natürlich in die amerikanische Comic-Tradition“. Das Produktionsteam um Regisseur Rennik-Jan Neggers nähere sich der „spielerischen Leichtigkeit mit bunten Bildern, satirischen und comic-ähnlichen Figurenzeichnungen“.

Dass THE APPLE TREE trotz seiner experimentellen und für den Broadway äußerst untypischen Form so erfolgreich war, liegt neben den Möglichkeiten, die das Stück insbesondere der weiblichen Hauptrolle bietet, sicherlich daran, dass biblische Stoffe Ende der Sechziger zunehmend an Popularität gewannen – auch im Musical-Bereich. Man denke nur an JESUS CHRIST SUPERSTAR von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice (1970) oder Stephen Schwartz’ Erstling GODSPELL aus dem gleichen Jahr. Für beide Stücke bildete THE APPLE TREE mit seiner biblischen Thematik den Wegbereiter.

Die Hinwendung zu religiösen Themen im Musical, insbesondere Darstellungen des Sündenfalls, ist dabei eine direkte Reaktion auf den Zeitgeist und die amerikanische Gesellschaft der Sechziger, die durch den Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung oder den Second-Wave-Feminismus einschneidende Erschütterungen erfahren und gleichsam ihre Unschuld verlor. Entsprechend kann man im Broadway-Musical dieser Zeit zunehmend düstere, experimentellere, aber auch religiös-spirituellere Werke entdecken. Nicht zuletzt die Hippie-Bewegung der Sechziger und die mit ihr einhergehende „Jesusmania“, die Lloyd Webber und Rice in JESUS CHRIST SUPERSTAR punktgenau parodieren, tat ihr Übriges dafür, dass geistliche und biblische Themen auch am Broadway en vogue wurden – und es bis heute sind.

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Neben THE APPLE TREE gibt es eine ganze Reihe von biblischen Geschichten inspirierter Musicals, die professionellen Bühnen wie Amateuren vielfältige Möglichkeiten bieten:

JESUS CHRIST SUPERSTAR ist sicherlich das bekannteste Bibel-Musical überhaupt. In Form einer durchgesungenen Rock-Oper mit ebenso mitreißenden wie textlich ausgefeilten Songs stellen Lloyd Webber und Rice die Passionsgeschichte aus Sicht von Judas dar. Fünfzig Jahre nach seiner Entstehung hat dieses Werk nichts von seiner Wirkung eingebüßt.

Auch GODSPELL greift mit dem Matthäus-Evangelium einen neutestamentarischen Stoff auf. In einer packenden Mischung aus Sprechszenen und Songs mit Ohrwurmqualität erzählen Schwartz und Librettist John Michael Tebelak von der Bildung einer Gemeinschaft und unterstreichen mit Freundlichkeit, Toleranz und Liebe zentrale christliche Werte.

Eine Vorlage aus dem Alten Testament verwenden Lloyd Webber und Rice bei JOSEPH AND THE AMAZING TECHNICOLOR DREAMCOAT (1968). Diese heiter-ausgelassene Musicalversion der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern ist durch seine eingängigen Songs gerade bei einem jungen Publikum sowie bei jungen Spielenden (z. B. in Schulen) äußerst beliebt.

Wie auch THE APPLE TREE ist LAST PARADISE LOST eine Musical-Adaption des Sündenfalls, allerdings in merklich anderem Klanggewand. Die Rock-Oper von Günter Werno, Andy Kuntz, Stephan Lill und Johannes Reitmeier basiert auf John Miltons Versepos „Paradise Lost“ aus dem Jahr 1667 und erzählt mit hymnisch-opulenter Klanggewalt vom Kampf zwischen Satan und Gott.

Einen ganz anderen Zugang zu den Erzählungen im Buch Genesis findet WICKED-Komponist Stephen Schwartz in CHILDREN OF EDEN (1991). Schwartz greift hier auf die Geschichten von Adam und Eva, Kain und Abel sowie Noah und der Sintflut zurück. Wegen seiner variablen Cast-Größe zählt dieses Musical gerade in Amerika zu den beliebtesten Shows bei Amateurtheatern.

In ROCK NATIVITY wiederum verwandeln Tony Hatch, Jackie Trent und David Wood die Weihnachtsgeschichte in ein gewaltiges Pop-Rock-Spektakel. Gerade für Jugend- und Schulgruppen bietet sich diese Stück besonders an.

Auch im Opern-Bereich finden sich zahlreiche biblische Stoffe. So in DIE KÖNIGIN VON SABA (1875) von Karl Goldmark, die auf dem 1. Buch der Könige basiert. Die Geschichte um die Königin von Saba, die an den Hof König Salomons reist, zählte zu den erfolgreichsten Opern des 19. Jahrhunderts.

Text: Patrick Mertens - Zum Weiterlesen: Philip Lambert: To Broadway, To Life! The Musical Theater of Bock and Harnick, Oxford University Press 2011.


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