Stephen Schwartz (*1948) zählt zu den profiliertesten Musicalkomponisten der Gegenwart – und das nicht erst seit dem enormen Kinoerfolg von WICKED. Seinen ersten großen Triumph feierte Schwartz bereits 1971 mit dem (ebenfalls verfilmten) Musical GODSPELL, ehe er durch PIPPIN, das 1972 in einer Inszenierung von Bob Fosse an den Broadway kam, endgültig zur Musicallegende wurde. Ein weiteres Schwartz-Musical aus den Siebzigern konnte damals zwar nicht an den Erfolg seiner vorangegangenen Broadway-Hits anknüpfen, gilt heute jedoch als eines seiner künstlerisch anspruchsvollsten und ausgefeiltesten Werke.
Die Rede ist von THE BAKER’S WIFE (1976), das in der aktuellen Theatersaison mit großem Erfolg in der Menier Chocolate Factory in London ein Revival erlebte. In Time Out wird diese neue Inszenierung des Musicals als „charming production“ und „beautifully judged revival“ gelobt, während sie bei musicaltheatrereview.com als „lively“ und „delightful“ beschrieben wird. Besonders hervorgehoben wird in den Rezensionen, dass der intime Charakter der Menier Chocolate Factory-Produktion der kammermusikalischen Faktur des Musicals deutlich gerechter werde als die Originalproduktion von 1976, die es bekanntlich nie an den Broadway schaffte.
Trotz der enormen Probleme bei der Erstproduktion entwickelte das Musical schnell ein „cult following“, an dem Schwartz’ kongenialer Score sicherlich wesentlichen Anteil hatte. Der Song „Meadowlark“ etwa gilt als eine der großen Paradenummern im Musicalbereich – und bewegte Trevor Nunn, der in den Achtzigern mit Shows wie CATS, LES MISÉRABLES oder ASPECTS OF LOVE zu einem der erfolgreichsten Musicalregisseure weltweit wurde, dazu, THE BAKER’S WIFE 1989 in London zu inszenieren. Nunns Version brachte das Musical nicht nur in eine gut spielbare Fassung, sondern legte zugleich die Grundlage für zahlreiche weitere Produktionen.
Worum geht es?
Das Musical basiert auf dem französischen Film LA FEMME DU BOULANGER von Marcel Pagnol aus dem Jahr 1938, der von Buchautor Joseph Stein (ANATEVKA, RAGS) für die Bühnenfassung adaptiert wurde. Film wie Musical sind in einem französischen Dörfchen angesiedelt, in dem zu Beginn der Handlung mit Hochspannung die Ankunft des neuen Bäckers namens Aimable erwartet wird. Für besonderes Aufsehen sorgt nicht nur die Qualität seiner Backwaren, sondern auch seine junge und äußerst hübsche Frau Geneviève, die nach Meinung der Dorfbewohner so gar nicht zu dem gutherzigen ältlichen Bäcker passt.
Im Verlauf der Handlung erliegt Geneviève den Avancen des Chauffeurs Dominique und brennt – nach einer eindringlichen musikalischen Reflexion im Song „Meadowlark“ – mit ihm durch. Der Bäcker ist über das Verschwinden seiner Frau derart verstört, dass er nicht mehr imstande ist, zu arbeiten. Die wortwörtlich brotlose Gemeinde beschließt daraufhin, Geneviève zu suchen, die am Ende des Musicals reumütig zu ihrem Gatten zurückkehrt. Statt seiner Wut über ihre Untreue Ausdruck zu verleihen, schimpft der Bäcker die gemeinsame Katze, die sich ebenfalls auf ein romantisches Abenteuer begeben hat, anstelle seiner Frau aus – eine Szene, die auf der Bühne ebenso berührt wie in Pagnols Film.
Ein zeitloser Score mit französischem Tonfall
Das Herzstück des Musicals ist aber ohne Zweifel Stephen Schwartz’ Musik, wie schon Patti LuPone, die im von Problemen gebeutelten Vor-Broadway-Tryout Geneviève verkörperte, in ihrer Autobiografie unterstreicht: „THE BAKER’S WIFE has been revived and revived, each time because of Stephen Schwartz’ beautiful score. […] ‚Meadowlark‘ has continued to have a life on its own – and rightfully so. It’s one of the most beautiful musical theatre songs ever written“ (Patti LuPone: A Memoir, S. 83). Doch auch jenseits von „Meadowlark“ erweist sich Schwartz’ Score als wahre Fundgrube musikalischer Kleinode, wie etwa die humoristisch-parodistische Ensemblenummer „Bread“.
Schwartz’ unverkennbarer Stil scheint zwar auch in THE BAKER’S WIFE immer wieder durch, doch der Score hat einen ganz eigenen Tonfall, mit dem Schwartz das konzeptionell zentrale Leben in einem verschlafenen französischen Dörfchen punktgenau einfängt. Dabei greift Schwartz keinesfalls nur auf oberflächliches „couleur locale“ zurück, wie etwa eine Akkordeon-lastige Orchestration und rauschende Tanzrhythmen, die man beispielsweise in „Merci Madame“ prominent finden kann. Vielmehr weist seine gesamte Tonsprache in THE BAKER’S WIFE einen deutlichen Einfluss von Komponisten des französischen Impressionismus auf, mit denen sich Schwartz in einem mehrmonatigen Rechercheprozess vor der Komposition des Musicals umfassend auseinandersetzte.
Musikalischer Impressionismus im Musical
„I played Debussy and Ravel on the piano, just so my fingers would automatically go towards these chord structures, and I would have those sounds in my head“, unterstreicht der Komponist in einem Interview für seine Biografie (Carol de Giere: Defying Gravity, S. 124). Gleichzeitig ließ sich Schwartz von französischen Chanson-Künstlern wie Édith Piaf und Yves Montand inspirieren, sodass sich die Show mit ihrer dezidiert französischen Tonsprache deutlich von anderen Musicalpartituren unterscheidet. Den französischen Einfluss kann man bereits im von Akkordeonklängen begleiteten „Chanson“ gleich zu Beginn des Musicals hören, in dem französische und englische Texte (respektive deutsche in der Übersetzung von Christian Gundlach) miteinander vermengt werden und so das geradezu prototypische Bild eines verschlafenen kleinen französischen Dörfchens heraufbeschworen wird.
Gordon Greenbergs Inszenierung in der Menier Chocolate Factory unterstreicht diesen Aspekt des Stücks ganz besonders, indem der gesamte Zuschauerraum zu einem französischen Dorfplatz umgestaltet wurde (inklusive künstlichem Baum, der Spielfläche und Zuschauertribünen gleichermaßen überragt). Das Publikum selbst sitzt dabei teilweise an Café-Tischen auf der Spielfläche und wird schon vor Beginn des Musicals in die französische Dorfwelt hineingezogen – etwa, wenn während des Einlasses das Ensemble eine gemächliche Partie Boule auf der Bühne spielt.
Ein Ensemblestück par excellence
Der besondere Fokus auf das Dorfleben ist ein herausstechendes inhaltliches Merkmal des Musicals, das Buchautor Joseph Stein bereits in ANATEVKA ausgiebig zum Einsatz gebracht hat. Wie in dem Musical-Evergreen gibt es auch in THE BAKER’S WIFE zahlreiche Szenen, in denen die Dorfgemeinschaft streitet, Gerüchte verbreitet, aber schließlich auch zusammenarbeitet, um das Happy End herbeizuführen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der zweite Song des Musicals „If It Wasn’t For You“, in dem Mitglieder der Dorfgemeinschaft und deren Alltagskonflikte vorgestellt werden.
„One of the things I like about THE BAKER’S WIFE is that there’s no chorus. The actors sing together but every single person has a name, a character and a journey“, erklärt Schwartz in einem Interview mit David Benedict im Vorfeld der Londoner Produktion. „No one is playing ‚Man 1‘. It really is about each one of these people in the village and how they’re changed by what happens“ (Programmheft London, S. 10). In der fehlenden Fokussierung auf die Dorfgemeinschaft als zentralem Akteur sieht Schwartz auch den Grund für den anfänglichen Misserfolg des Musicals, was die Autoren mit ihrer Überarbeitung für die Produktion von Trevor Nunn zu beheben suchten. „The mistake we have been making was we didn’t see it as the story of the entire village“, betont der Komponist. „Trevor Nunn said the village is the protagonist. Along with the central characters, it’s the village which undergoes the great change – and that’s the real story“ (Programmheft London, S. 9).
THE BAKER’S WIFE ist also – trotz zweier starker Hauptrollen – ohne Frage ein Ensemblestück, das sich auch bestens für die Produktion an hiesigen Stadt- und Staatstheatern eignet. Wie die mit 14 Dorfbewohnern und zwei Hauptrollen besetzte Londoner Produktion jüngst gezeigt hat, funktioniert die Show als intim inszeniertes Kammermusical problemlos und hat auch knapp fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrem Charme verloren.
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Text: Dr. Patrick Mertens
Eine erweiterte Fassung dieses Textes präsentiert der Autor als Vortrag im Rahmen des Jahresmeetings der Freunde und Förderer des Deutschen Musicalarchivs am 7. und 8. März 2025 in Essen.
Zum Weiterlesen: Carol de Giere: Defying Gravity. The Creative Career of Stephen Schwartz from Godspell to Wicked, New York: Applause 2008.