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Für Herz und Verstand – Stephen Sondheim

Eine persönliche Würdigung des großen Broadway-Komponisten.

1976 (Foto: Wikimedia Commons)

2021 (Foto: Music Theatre International)

Mit 18 hatte ich ein Auto und endlich auch ein Abonnement im Staatstheater Kassel. Meist war auch ein Musical pro Saison dabei: Ich lächelte brav über „Gigi“ und drückte bei „Anatevka“ auch mal ein Tränchen weg. Aber ganz weit drinnen war da so ein Gedanke: Geht da nicht noch mehr?

Als Student konnte ich mich dem Genre nur im Verborgenen widmen: Welcher Musikwissenschaftler hätte die Gattung Musical damals nicht ignoriert, welcher Theaterwissenschaftler sie nicht verspottet? Aber im Keller des Instituts fand tatsächlich ein Proseminar zum Thema Musical statt, und die Arbeit an einem Referat ließ mich erstmals diesen Namen in ganzer Tragweite wahrnehmen: Stephen Sondheim.

Ich besorgte mir die wenigen Platten mit seiner Musik, die mir zugänglich waren – darunter eine ganz eigenartige, auf der eine Sängerin mit verschattet rauchiger Stimme „Send in the Clowns“, „Not a day goes by“ und „Anyone can whistle“ hauchte. Selbst das konnte mich nicht abschrecken. Ich wollte mehr, aber Illusionen mochte ich mir keine machen: Das wird in Deutschland niemals aufgeführt werden, da war ich mir sicher.

Aber nein – als ich mein erstes Engagement als Dramaturg antrat, lange her, im abgelegenen Greifswald, war dort tatsächlich DAS LÄCHELN EINER SOMMERNACHT angekündigt. Für das Programmheft fand ich ein Zitat über Sondheim, das im Theater die Runde machte: Seine Musik sei „wie Schlagsahne mit Messerspitzen“. Der Regisseur fand das toll, der Dirigent nahm es hin, und im Ensemble gab es abweichende Meinungen. Dem Publikum war’s egal – anfangs der Neunziger kam auf früherem DDR-Gebiet ohnehin kaum jemand ins Theater. Aber ich hatte Sondheim gemacht!

In meinem nächsten Theater wollte ich unbedingt die deutsche Premiere von PASSION durchsetzen. Die verehrte Barbara Böhme-Berthold, damals Chefin von Musik und Bühne, hätte mitgetan, aber am Intendanten biss ich mir die Zähne aus. Der Titel muss sich in seinem Ohr aber doch festgesetzt haben – viele Jahre später brachte er genau dieses Musical andernorts heraus.

Ungefähr ab diesem Zeitpunkt konnte ich mich endlich dauerhaft für Stephen Sondheim einsetzen, und zwar dort, wo es erfolgversprechend war: Bei dem Verlag, der seine Werke in Deutschland vertritt, und in den Theatern, wo Sondheim mehr und mehr als das anerkannt wird, was er ist: Nicht ein Großer, sondern der Größte unter den Broadway-Komponisten.

Meine sachte Hoffnung, ihn eines Tages vielleicht doch noch kennenzulernen, wird sich nun nicht mehr erfüllen. Aber er bleibt ein Vorbild: Jedes Sondheim-Musical erkundet neues Terrain, überwindet leichtfüßig oder demonstrativ die bis dahin geltenden Grenzen der Gattung, seine Musik und seine unvergleichlichen Texte sprechen Herz und Verstand gleichermaßen, als ein Ganzes an.

Dass der Meister die in den letzten Jahren entstandenen neuen deutschen Fassungen von FOLLIES, SUNDAY IN THE PARK WITH GEORGE und THE FROGS als „thrilling!“ adelte und nach einer deutschsprachigen Aufführung von SWEENEY TODD in Wien ausdrücklich die Übersetzung lobte, obwohl er selbst der Sprache nicht mächtig war („die Leute haben an den richtigen Stellen gelacht!“), ist uns allen ein stetiger Ansporn.

In einem seiner letzten Interviews sagte Sondheim, es sei „wunderbar zu wissen, dass Menschen meinen Kram mögen“ und dass sein größter Wunsch sei, „dass das Zeug immer wieder auf der Bühne gezeigt werde, immer wieder“.

Ich darf auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen sagen: Ganz gewiss, Mister Sondheim, wir mögen, nein – wir lieben den „Kram“. Und wir werden unermüdlich daran arbeiten, dass er immer wieder, und immer wieder neu, auf die Bühne gelangt.

Jürgen Hartmann


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