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In den 1960er-Jahren durchlief die Musikwelt einen tiefgreifenden Wandel: Waren in den Jahrzehnten zuvor Singles das wichtigste Medium zum Musikkonsum gewesen, wurden sie nun von der Langspielplatte abgelöst. Alben waren zunehmend keine bloße Zusammenstellung von Hit-Songs mehr, sondern ein künstlerisches Gesamtwerk, dessen Möglichkeiten es auszuloten galt. Künstler begannen die Songs auf ihren Alben bewusst zu kombinieren und sie bisweilen sogar durch ein übergreifendes Thema zusammenzuhalten – die Geburtsstunde des Konzeptalbums.
Aus einer Notlösung wird ein Erfolgsmodell
Zu den Pionieren auf diesem Feld zählen britische Rockbands wie The Beatles, The Kinks und The Who, aber auch der britische Musicalkomponist Andrew Lloyd Webber. Letzterer wurde allerdings eher zufällig zu einem der wichtigsten Impulsgeber im Bereich der Konzeptalben. So war sein zusammen mit Tim Rice entstandenes Werk JESUS CHRIST SUPERSTAR eigentlich als Bühnenstück konzipiert. Doch kein Londoner Produzent wollte es riskieren, ein Musical von zwei jungen, gänzlich unbekannten Autoren zu finanzieren, das mit den letzten Tagen im Leben Jesu zumal ein äußerst kontroverses Thema behandelte.
Um ihre Idee dennoch umsetzen zu können, entschieden sich Lloyd Webber und Rice, zunächst eine Single („Superstar“, 1969), dann ein Konzeptalbum (1970) zu veröffentlichen. Hierdurch konnte einerseits der Markt ausgetestet werden, gleichzeitig wurde die Musik so bei einem breiten Publikum bekannt gemacht – das Album JESUS CHRIST SUPERSTAR übernahm also die Funktion einer Preview, wie die im Musicalbereich typischen Voraufführungen heißen.
Als JESUS CHRIST SUPERSTAR im Oktober 1971 schließlich die Bühne erreichte, war das Stück längst zu einem globalen Phänomen geworden. Die Zuschauer, die deutlich jünger waren als die typischen Musicalgänger der Siebziger, kannten die Songs schon vor ihrem Besuch bestens und die Atmosphäre im Theater glich, wie die Autoren selbst betonen, der eines Rockkonzerts. Das Konzeptalbum hatte seine Teaser-Funktion mehr als erfüllt.
Vom Album zur Bühne: JESUS CHRIST SUPERSTAR und EVITA
JESUS CHRIST SUPERSTAR ist jedoch nicht nur aufgrund seiner Werbefunktion für die Bühnenshow kein gewöhnliches Konzeptalbum. Auf den insgesamt 23 Tracks der Doppel-LP wird eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Damit geht JESUS CHRIST SUPERSTAR weit über andere Konzeptalben hinaus, bei denen die Songs zwar ebenfalls einem übergeordneten Thema folgen, aber nicht unbedingt durch eine Handlung miteinander verknüpft sein müssen. Bei JESUS CHRIST SUPERSTAR hingegen bilden alle Tracks eine narrative Einheit und transportieren durch Rockmusik, Rezitative und Songs eine Handlung – weshalb man von einer Rockoper spricht. Auch in der Bühnenversion des Albums wird die Musik nicht durch Sprechszenen unterbrochen, wie es für Book-Musicals der 1970er-Jahre noch üblich war.
Da sich das Modell der Vorabveröffentlichung eines Konzeptalbums bei JESUS CHRIST SUPERSTAR als derart erfolgreich erwies, gingen Lloyd Webber und Rice bei ihrem Folgestück ebenso vor: Die Rockoper EVITA, die das Leben der argentinischen Präsidentengattin Eva Perón thematisiert, erschien 1976 ebenfalls zunächst als Konzeptalbum. Die Doppel-LP eroberte die Charts, der Song „Don’t Cry For Me Argentina“, gesungen von Julie Covington, wurde zum Welthit – auch hier bildete die Vorabveröffentlichung auf Tonträgern den Grundstein für den späteren und bis heute anhaltenden Bühnenerfolg.
Die Geburtsstunde der Rockoper: The Who und TOMMY
Lloyd Webber und Rice waren jedoch keineswegs die ersten Künstler, die die Idee hatten, die Songs auf einem Album nicht nur durch ein thematisches Konzept zusammenzubinden, sondern einer durchgehenden Handlung folgen zu lassen. Bereits 1969 veröffentlichte Songwriter Pete Townshend mit der britischen Band The Who das Konzeptalbum TOMMY, das als eigentliche Geburtsstunde der Rockoper gilt.
Die Doppel-LP erzählt vom Lebensweg des titelgebenden Tommy, der taub, blind und stumm ist – und dennoch ein außergewöhnliches Talent besitzt: das Flipperspielen. Trotz traumatischer Erfahrungen in seiner Kindheit gewinnt er den Pinball-Weltmeistertitel und wird zum Superstar. Nach seiner wundersamen Genesung verehren seine Anhänger Tommy zunächst als Messias, wenden sich jedoch schnell gegen ihn.
Wie schon Lloyd Webber und Rice in ihren Rockopern werfen auch The Who einen kritischen Blick auf die Gesellschaft der 1970er-Jahre, wo Jesusmania, Kommerzialisierung und die fast gottgleiche Verehrung von Rockidolen insbesondere die jüngere Generation prägten. Durch die zeitlose Behandlung dieser Themen erfreut sich die Rockoper bis heute größter Popularität.
Das liegt sicher auch an der kultigen Verfilmung von TOMMY durch Ken Russell aus dem Jahr 1975, in der Stars wie Tina Turner oder Elton John die Hits „The Acid Queen“ und „Pinball Wizard“ interpretieren. Zusammen mit Librettist Des McAnuff erarbeitete Townshend zudem eine Musicalfassung, die 1993 mit fünf Tony Awards ausgezeichnet wurde und im vergangenen Jahr eine vielbeachtete Neuproduktion in New York erlebte.
Revival im neuen Jahrtausend: Die Punk-Rock-Opera AMERICAN IDIOT
Trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer großen Erfolge in den Siebzigern nahm die Zahl an Konzeptalben und Rockopern seit den Achtzigern merklich ab. Erst die amerikanische Punk-Band Green Day hauchte dem Genre 2004 mit ihrem Hit-Album AMERICAN IDIOT neues Leben ein. Genau wie Konzeptalben früherer Generationen zeichnet sich das Werk, das die Band selbst als „Punk Rock Opera“ bezeichnet, durch starke gesellschaftskritische und politische Inhalte aus.
Die zunehmende Manipulation durch die Medien im 21. Jahrhundert, die gesellschaftliche Erstarrung nach den Anschlägen des 11. September 2001, aber auch die Perspektivlosigkeit der amerikanischen Vorstadtjugend sind nur einige der Themen, die in Songs wie „Boulevard of Broken Dreams“ oder „Wake Me Up When September Ends“ behandelt werden. Ab 2010 wurde eine Bühnenadaption von AMERICAN IDIOT am Broadway aufgeführt, bei der Green-Day-Frontmann Billie Joe Armstrong selbst die Rolle des St. Jimmy spielte. Die Originalproduktion gewann zwei Tony Awards.
Ein Genre lebt fort: LOSERVILLE
Der Erfolg von AMERICAN IDIOT zog eine ganze Welle weiterer Konzeptalben nach sich, darunter das Album WELCOME TO LOSERVILLE der britischen Band Son of Dork aus dem Jahr 2005. Auch hier wird die amerikanische Vorstadtjugend porträtiert – diesmal in den 1970er-Jahren. Mit viel Retrocharme begibt sich in diesem Werk, das 2009 als Book-Musical unter dem Titel LOSERVILLE für die Bühne adaptiert wurde, eine Gruppe junger Computergeeks auf die Suche nach ihrem „Ticket raus aus Loserville“. Auf dem Weg finden sie Freundschaft, Selbstvertrauen und sogar Liebe. An diesem Werk zeigt sich eindrücklich, wie das Genre Rockoper in der Gegenwart fortlebt und noch heute Rock- und Musicalfans gleichermaßen zu begeistern weiß.
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Text: Dr. Patrick Mertens