Es kommt – sieht man von Uraufführungen und Tour- bzw. Klonproduktionen ab – nicht häufig vor, dass amerikanische Branchenblätter über deutsche Musical-Premieren berichten. Doch Barrie Koskys neueste Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, der Sondheim-Klassiker SWEENEY TODD, wurde jüngst sogar im Broadway-Magazin Playbill besprochen.
Natan Zamansky erklärt hier treffend, dass das 1979 in New York uraufgeführte und mit acht Tonys ausgezeichnete Musical in den letzten Jahren gerade an internationalen Opernhäusern zu immer größerer Beliebtheit gelangt ist (die erste Produktion an einem Opernhaus fand bezeichnenderweise bereits 1984 an der Grand Opera in Houston statt). Insbesondere für klassische Bass-Baritone sei das Musical, das Sondheim selbst als „dark operetta“ bezeichnete, ein wunderbares Starvehikel, dem sich schon Größen wie Nathan Gunn, Thomas Allen, Bryn Terfel und in Berlin nun Christopher Purves (neben Dagmar Manzel als Mrs. Lovett) angenommen haben. Die farbenprächtige Orchestration von Jonathan Tunick und die herausgehobene Rolle des Chores machen SWEENEY TODD darüber hinaus geradezu prädestiniert für Häuser im deutschsprachigen Raum.
Wie beliebt das Musical, das durch die Verfilmung von Tim Burton mit Johnny Depp in der Titelrolle einen Popularitätsschub erfahren hat, hier bereits ist, zeigt sich an der großen Anzahl verschiedener Produktionen: Allein in der Spielzeit 2024/25 wird es sechs Neuproduktionen dieses Klassikers im deutschsprachigen Raum geben – drei von diesen sind bereits angelaufen. Über Koskys Inszenierung des „Thriller-Musicals“ an der Komischen Oper heißt es bei Clemens Haustein in der FAZ: „Das Komische vermengt sich hier mit dem Grauenhaften, Humor schwärzester Sorte ist zu erleben, wenn ein Londoner Barbier zum Justizopfer wird“. Zu Sondheims Musik mit ihrer „unkonventionellen Art“ führt Haustein aus: „Kantig erscheint sie in ihren schroffen Klangmischungen, ungemütlich in den bewusst gesetzten Dissonanzen, unheimlich in ihrem der Horror-Filmmusik abgelauschten Murmeln und Säuseln. Das hat auch heute, rund fünfundvierzig Jahre nach der Uraufführung, noch etwas prickelnd Avantgardistisches.“
Jürgen Rickert ist bei Musical Today ebenfalls voll des Lobes für „Sondheims höchst komplexe, mit zahlreichen Motiven angereicherte und beinahe durchgängige Partitur“ und resümiert: „Ein pathologischer, albtraumhafter Cocktail, der jeden Psychiater in Wallung bringen würde.“ Ähnlich beeindruckt von Koskys Inszenierung zeigt sich Christoph Doerner, der das Musical auf kulturfeder.de als „düsteres Meisterwerk über Rache, Macht und gesellschaftliche Abgründe“ beschreibt. Zur Berliner Produktion sagt er: „In dieser labyrinthischen Metropole [gemeint ist London], wo Hoffnung verloren scheint, erzählt der Regisseur keine bloße Rachegeschichte, sondern einen Abgesang auf soziale Kälte und entfremdete Menschlichkeit. Ein unvergesslicher Abend – verstörend, faszinierend und packend.“
Über die ebenfalls vor Kurzem angelaufene Hildesheimer Produktion (in der Fassung für nur neun Instrumente als Begleitung) schreibt Jürgen Rickert bei Musical Today: „SWEENEY TODD changiert zwischen makabrer Operette, Opernelementen und Musical“, wobei Regisseur Sebastian Ellrich „den Horror mit viel Geschick und prickelndem Hitchcock-Effekt aufs Kammerformat“ konzentriere. Sondheims „variantenreiche, motivisch starke Songs“ bezeichnet Rickert als „wahre Kabinettstückchen“, deren Sound „zwischen rau und süßlich, zupackend und zart, Ballade und Glitter“ pendele und deren deutsche Fassung von Roman Hinze und Wilfried Steiner „passgenau“ sei.
Ähnlich begeistert zeigt sich die Presse über die Dortmunder Produktion des Musicals, die vor wenigen Wochen ihre Premiere feierte. Von einem „gewaltigen Werk“ spricht etwa Dominik Lapp in seiner Rezension auf kulturfeder.de. Sondheims „komplexe, rhythmisch herausfordernde Komposition“ besitze, so Lapp weiter, eine „düstere, dramatische Atmosphäre“, die „vom schneidenden Klang der Eröffnung bis hin zu sanfteren, melancholischen Melodien“ reiche. Stefan Keim beschreibt für den Kulturtipp des WDR das Musical als Verbindung von „Gruselgeschichte und Komödie mit tiefschwarzem Humor“ und lobt besonders die Partie von Mrs. Lovett: „Die rasanten und wortwitzigen Songs sind Paradenummern, die Pointen fliegen dem Publikum nur so um die Ohren.“
Auch Daniela Hennen würdigt SWEENEY TODD in ihrer Rezension für die Musicalzentrale als „Musical-Thriller mit imposanter Musik“. Zum inhaltlichen Kern führt sie aus: „Die Opfer-Täter-Umkehr [in SWEENEY TODD] wirkt nahezu nachvollziehbar und weniger pathologisch. Der Zuschauer schreckt vor sich selbst zurück, Empathie mit einem Mörder und dessen Gehilfin zu empfinden. In jedem Fall stiftet das Stück mit unzähligen Spitzen des schwarzen wie britischen Humors beste Unterhaltung.“ Markus Lamers lobt im Opernfreund zudem ausdrücklich die „gelungene deutsche Übersetzung von Wilfried Steiner und Roman Hinze, [durch die] sich die Handlung gut verfolgen“ lasse. Ausführlich geht Lamers auch auf die Musik der „abwechslungsreichen Komposition“ mit ihren „kraftvollen und gefühlvollen Momenten“ ein: Sondheim verwende, so Lamers, ein „Leitmotivsystem, das auf dem Gregorianischen Choral Dies Irae basiert. Vielstimmige Ensemble- und Chorstücke, begleitet von einem kraftvollen Orchester, erinnern vielleicht sogar eher an eine Oper als an eine Operette, was SWEENEY TODD zu einem echten Musical-Juwel macht.“
Im Lauf der aktuellen Spielzeit erwarten uns weitere Produktionen des Grusel-Musicals am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken, am Landestheater Linz sowie am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Doch SWEENEY TODD ist nicht das einzige Werks Sondheims (COMPANY, FOLLIES, SONNTAGS IM PARK MIT GEORGE), das gegenwärtig das Publikum begeistert. Am Theater Basel etwa hatte vor Kurzem INTO THE WOODS (dt. AB IN DEN WALD) seine Premiere, das spätestens seit der Verfilmung mit Meryl Streep aus dem Jahr 2014 zu den beliebtesten Sondheim-Musicals zählt.
„Raffiniert mit Tiefgang“ titelt Bernd Künzig in seiner Rezension der Basler Produktion für den SWR und beschreibt INTO THE WOODS als „dekonstruktive Auseinandersetzung mit der Grimm’schen Märchenwelt“ und als „psychoanalytische Märchenoper“. Zudem lobt er den „Sondheim’schen Musicaltonfall aus Witz, Hochdramatik und melancholischer Lyrik“ sowie die „glänzende Instrumentation“. Angela Reinhardt liefert bei Musical Today zudem eine punktgenaue Zusammenfassung des Stück, wenn sie erklärt: „Im ersten Akt amüsiert man sich königlich, wie Buchautor James Lapine fünf bis sechs Märchen raffiniert zusammenknotet, wie sich die Figuren gegenseitig stören und helfen, und wie eigentlich alles im Eiltempo bestens ausgeht. Im zweiten Akt kommt dann der Schock, die Märchenfiguren werden zertrampelt, die Prinzen gehen fremd und die guten Menschen lügen.“