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The Perfect Musical: GUYS AND DOLLS wird 75

Frank Loessers Musicalklassiker GUYS AND DOLLS gelangte durch ein innovatives Revival in London jüngst zu neuer Popularität. Ein Blick über die Grenzen.

GUYS AND DOLLS in Hannover (Foto: Nds. Staatstheater/Thomas M. Jauk)

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Es war die große Überraschung der Theatersaison 2022/23: Eine neue Produktion von Frank Loessers Musicalklassiker GUYS AND DOLLS im Londoner Bridge Theatre avancierte schnell zu einer der gefragtesten Shows in der britischen Metropole.

Die Laufzeit wurde aufgrund der großen Publikumsnachfrage mehrfach verlängert, sodass das Musical knapp zwei Jahre (und damit über 700-mal) gezeigt wurde, ehe am 4. Januar 2025 die letzte Vorstellung stattfand.

Doch wie gelang es einem Stück, das 1950, also vor 75 Jahren, entstand, ein derart breites (und altersmäßig bunt gemischtes) Publikum anzusprechen? Die Antwort liegt sowohl im Stück selbst als auch in der Londoner Inszenierung.

Gangster, Glücksspieler und Nachtclubgrößen

Das Musical GUYS AND DOLLS basiert auf Episoden und Charakteren der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung des amerikanischen Autors Damon Runyon (1880–1946), der mit seinen humoristischen Erzählungen der New Yorker Halbwelt ein kongeniales Denkmal setzte.

Runyons Klientel aus zwielichtigen Gangstern, Nachtclubgrößen und Glücksspielern mit Namen wie „Harry the Horse“ oder „Nicely-Nicely Johnson“ prägt noch heute unser Bild des Broadways zur Zeit der Prohibition – das Adjektiv „runyonesque“ als Beschreibung für dieses mythisch verklärte Unterweltmilieu rund um den Times Square hat sogar seinen Weg ins Oxford Dictionary gefunden.

Bereits Kurt Weill ließ sich durch Runyons Erzählungen inspirieren, die bekannteste Musiktheateradaption eines Runyon-Stoffes entstand jedoch ab 1949 unter Federführung der Produzenten Cy Feuer und Ernest Martin. Trotz eines nicht immer reibungslosen Probenprozesses (in dessen Verlauf unter anderem der ursprüngliche Librettist Jo Swerling ausgetauscht werden musste) wurde die New Yorker Premiere am 24. November 1950 ein durchschlagender Erfolg und GUYS AND DOLLS erzielte in seiner originalen Produktion 1200 Vorstellungen am Broadway.

Ein Klassiker der Goldenen Musical-Ära

Zum Erfolg des Musicals trugen insbesondere Abe Burrows’ (HOW TO SUCCEED IN BUSINESS WITHOUT REALLY TRYING) humorvoll-pointiertes Buch, das laut Thomas Siedhoff aufgrund seiner „Geschlossenheit mit konsistenten Dialogen zu den herausragenden Beispielen der neueren englischsprachigen Literatur gehört“, sowie die eingängigen Songs von Frank Loesser (WHERE’S CHARLEY?, THE MOST HAPPY FELLA) bei.

Zahlreiche von Loessers Nummern aus GUYS AND DOLLS, wie „Luck Be A Lady“ oder „Sit Down You’re Rocking the Boat“, sind auch außerhalb des Musicals zu Welthits geworden. Und das dreistimmige Barbershop-Fugato „Fugue for Tinhorns“ ist mit seiner Kontrapunktik einer der kompositorisch einfallsreichsten Songs der Musicalgeschichte. Zudem hat die von jazzigen Big-Band-Arrangements geprägte Partitur auch 75 Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrem Charme eingebüßt.

Songs und Dialoge sind in GUYS AND DOLLS jedoch nicht nur für sich betrachtet hervorragend gestaltet, sie bilden auch – obwohl ein Großteil der Musik bereits fertiggestellt war, als Burrows zum Projekt stieß, um ein neues Buch zu schreiben, – eine organische Einheit. Das Werk ist damit ein Paradebeispiel für ein sog. „Integrated Musical“ aus der Goldenen Ära des Broadways (1943–1964), bei denen alle Elemente einer Produktion, einschließlich Musik und Tanz, eine dezidierte Funktion im dramaturgischen Ganzen besitzen und dazu beitragen, die Handlung zu erzählen.

GUYS AND DOLLS has often been called the perfect musical“, erklären Frank Loessers Kinder in diesem Zusammenhang im Programmheft zur jüngsten Londoner Produktion. „And for good reason. Though produced in 1950, it always seems fresh and new. It presents universal truths about love and romance that always ring authentic and relatable. […] None of us can remember a time when it wasn’t playing somewhere in the world, not to mention the thousands of high-school performances every year.“

Ein innovativer Zugang

Tatsächlich erlebte das Musical unzählige Revivals, von denen das jüngste in London dem Klassiker einen neuen Popularitätsschub verlieh. Starregisseur Nicholas Hytner (MISS SAIGON) hat für seine Produktion im Bridge Theatre ein innovatives Konzept entwickelt – ohne dabei das Stück in seiner Substanz zu verändern. Vielmehr gelingt es Hytner, durch eine immersive Inszenierung ein ganz neues Besuchserlebnis für die Zuschauer im Bridge Theater zu schaffen.

Beim Betreten des arenaartigen Auditoriums wird das Publikum direkt in die runyoneske Welt von GUYS AND DOLLS hineingezogen. Gigantische Neon-Werbeschilder hängen über der Spielfläche und wecken sofort Assoziationen mit dem New Yorker Times Square. Schon vor Beginn der Show interagieren die Darsteller mit dem Publikum, wobei viele Zuschauer Stehplätze direkt auf der Arenabühne haben, während Hot-Dog-Verkäufer, die mit echt New Yorker Wägen ihre Runden auf der Bühne ziehen, für die passende Verpflegung sorgen.

Ab Beginn des eigentlichen Musicals werden die Stehplatz-Zuschauer dann durch als Polizisten kostümierte Crew-Mitglieder über die Bühne bewegt. Hierdurch entstehen nicht nur permanent neue Spielräume, die Zuschauer können die Darbietungen zudem hautnah miterleben und teilweise sogar in der Show mitwirken. In der Pause und nach dem Schlussapplaus wird das Auditorium darüber hinaus zum Club umfunktioniert und die Zuschauer können (gemeinsam mit den Darstellern) zu Remixen der Loesser-Songs auf der Bühne tanzen. Bei solch einem Theaterevent ist beste Stimmung natürlich garantiert.

„An immaculately structured comedy“

Arifa Akbar bezeichnet die Produktion im Guardian als „feat of innovative staging“, während Matt Wolf in der New York Times resümiert: „You leave humming, and with a full heart“. Wolf führt aus: „GUYS AND DOLLS is surely one of the most beloved Broadway musicals in London, where it […] beguiles audiences with its treasurable humor and wit“. Andrzej Lukowski beschreibt das Musical in Time Out als „an immaculately structured comedy bursting with deathless one-liners and wonderful characters that follows an assortment of lovelorn New York City lowlifes at the seedy height of Prohibition.“

In Deutschland wurde das Stück erstmals 1969 in Bremen gezeigt. Seither finden regelmäßig Inszenierungen dieser „Musical Fable of Broadway“, wie das Stück im Untertitel heißt, im deutschsprachigen Raum statt – etwa 2020 an der Oper Graz oder 2021 in Magdeburg. Ein neuer Popularitätsschub für Loessers Musical steht hierzulande allerdings noch aus. Nach der jüngsten Londoner Inszenierung ist GUYS AND DOLLS in Musicalkreisen wieder in aller Munde, und spätestens die sich aktuell in Vorbereitung befindende Neuverfilmung durch Rob Marshall wird diesen Musicalklassiker wieder einem breiten Publikumskreis bekannt machen.

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Text: Dr. Patrick Mertens


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