Das Sondheim-Revival der 2020er-Jahre
DIE FRÖSCHE (engl. THE FROGS) zählt zu den unbekanntesten Werken von Musicaltitan Stephen Sondheim (1930–2021). Nach dessen Tod erfreuen sich seine Musicals heute größter Beliebtheit und sind teils erfolgreicher als zu Lebzeiten des Komponisten. Man schaue sich nur die Broadwayproduktionen von COMPANY (2021), INTO THE WOODS (2022), SWEENEY TODD (2023) oder MERRILY WE ROLL ALONG (2023) an, die jüngst zu Besuchsrekorden in New York geführt haben.
Auch hiesige Theater entdecken die Werke Sondheims zunehmend für sich, was sich aktuell etwa an der deutschsprachigen Erstaufführung von MERRILY WE ROLL ALONG in Regensburg oder FOLLIES an der Volksoper Wien zeigt. Sondheims Musicalklassiker SWEENEY TODD, der durch die Verfilmung von Tim Burton aus dem Jahr 2007 weltbekannt wurde, hat in dieser Spielzeit sogar sechs Neuproduktionen im deutschsprachigen Raum.
In London rücken im Zuge dieses Sondheim-Revivals nun auch weniger bekannte Werke des amerikanischen Komponisten in den Fokus. Nachdem die Menier Chocolate Factory 2023/24 bereits Sondheims selten gespieltes Musical PACIFIC OVERTURES (über die erzwungene Öffnung Japans durch die Schwarzen Schiffe) auf die Bühne brachte, feierte vor wenigen Wochen THE FROGS im Southwark Playhouse London Premiere.
Von einer griechischen Komödie zum Musical
THE FROGS basiert – wie es im Libretto heißt – „sehr frei“ auf der gleichnamigen antiken Komödie des griechischen Dichters Aristophanes, die vermutlich 405 v. Chr. in Athen uraufgeführt wurde. Im Zentrum der Handlung steht der Gott Dionysos, der zusammen mit seinem Sklaven Xanthias in die Unterwelt reist. Dort möchte er einen großen Dichter aus dem Jenseits zurückholen, damit dieser durch seine Kunst die gegenwärtigen Probleme in der Welt bekämpft.
Nach allerlei Komplikationen – unter anderem einer Begegnung mit Fröschen bei der Fahrt auf dem Fluss Styx – erreichen sie die Unterwelt. Hier muss nun entschieden werden, welchem Dichter die Ehre einer Rückkehr in die Welt der Lebenden gebührt. In Aristophanes’ Original kämpfen Aischylos und Euripides um die Dichterkrone. Bei Sondheim und seinem Librettisten Burt Shevelove, die Aristophanes’ Handlung eher grob folgen, werden die griechischen Dramatiker durch William Shakespeare und George Bernard Shaw ersetzt. Diese fechten in der Unterwelt einen wortgewaltigen Dichterwettstreit aus. Shakespeare wird zum Sieger erklärt und darf auf die Erde zurückkehren.
Sondheim und die Antike
Aristophanes’ FRÖSCHE sind zugegebenermaßen ein äußerst ungewöhnliches Sujet für ein Musical – aber dies lässt sich über zahlreiche Stücke Sondheims sagen (wie ASSASSINS, das amerikanische Präsidentenmörder ins Zentrum stellt, oder SUNDAY IN THE PARK WITH GEORGE über den Pointillismus-Maler George Seurat). Bereits einige Jahre vor THE FROGS atten Sondheim und Shevelove einen antiken Stoff adaptiert: DIE SPINNEN, DIE RÖMER! (A FUNNY THING HAPPENED ON THE WAY TO THE FORUM), das erste Broadway-Musical, für das Sondheim sowohl Liedtexte als auch Musik verfasste, basiert frei auf den Werken des römischen Dichters Plautus.
Das 1966 mit Zero Mostel verfilmte Musical weist stilistisch markante Ähnlichkeiten zu THE FROGS auf, insbesondere was das spielerische Durchbrechen der vierten Wand und die Interaktion mit dem Publikum betrifft. So verwundert es auch nicht, dass die Eröffnungsnummer der FRÖSCHE „Invocation“ ursprünglich für DIE SPINNEN, DIE RÖMER! verfasst wurde, bevor Sondheim sie dort durch den berühmten Song „Comedy Tonight“ ersetzte (vgl. Citron: „Sondheim & Lloyd Webber“, S. 101).
Eine Verbeugung vor der griechischen Theatertradition
Wie intensiv sich Sondheim für THE FROGS mit der griechischen Theatertradition auseinandergesetzt hat, verdeutlicht ein Blick ins Libretto: In der annotierten Fassung seiner gesammelten Lyrics („Finishing the Hat“) erklärt Sondheim, dass ein Großteil der Nummern in THE FROGS dezidiert bestimmte Szenen- und Musiktypen der antiken griechischen Dramentradition aufgreift.
So entspricht etwa die eröffnende „Invocation“ dem griechischen Prologos, während „Hymn to Dionysos“ zu Beginn des zweiten Aktes ein Hymnos, der Song „Hades“ ein Paian (beides Danklieder) oder „It’s Only a Play“ eine Parabasis, in der sich der Chor direkt an die Zuschauenden wendet, ist (vgl. Sondheim: „Finishing the Hat“, S. 285–301). Der Titelsong „The Frogs“ schließlich ist dem Parodos nachempfunden, einer großen Nummer für den ersten Auftritt des Chores, die mit Sondheim-typischem Reimgold aufwartet: „Whaddaya care the world’s a wreck? / Leave ’em alone, send ’em a check, / Sit in the sun and what the heck, / Whaddaya wanna break your neck for?“
Eine hochkarätig besetzte Studentenproduktion
THE FROGS entstand im Frühjahr 1974 für eine Studentenproduktion der Yale Drama School. Bereits 1941 hatte Librettist Burt Shevelove eine Fassung der Aristophanes-Komödie für Yale geschrieben, die er in den Siebzigern zusammen mit Sondheim zu einer 90-minütigen Musicalversion umarbeitete. Trotz eines chaotischen und sehr kurzen Entstehungs- und Probenprozesses (sechs Wochen für die Komposition, vier Wochen für die Einstudierung) sowie einer katastrophalen Akustik wurde die Produktion wohlwollend aufgenommen.
Dazu trug sicherlich auch das ungewöhnliche Setting bei: Gespielt wurden die acht Vorstellungen im Yale Exhibition Swimming Pool, wobei Mitglieder des Yale Swim Teams die Frösche darstellten. Zu den Beteiligten dieser ersten FROGS-Produktion zählten unter anderem die damaligen Studenten Meryl Streep, Sigourney Weaver und Christopher Durang.
Für Sondheim bot diese Produktion nicht nur die Gelegenheit, sich nach den drei anstrengenden kommerziellen Produktionen COMPANY (1970), FOLLIES (1971) und A LITTLE NIGHT MUSIC (1973) einem kleineren Projekt jenseits des Broadways zuzuwenden. Er hatte in diesem Musical gleichzeitig die Möglichkeit, ausgedehnte Chorpassagen zu schreiben und seine kontrapunktischen Fertigkeiten zu verfeinern, die für seine folgenden Werke so charakteristisch werden sollten – man denke nur an die differenziert ausgearbeiteten Chornummern in SWEENEY TODD (1979).
Ein wegweisendes Revival
Auf die Yale-Produktion folgten mehrere kleine Revivals. Eines davon war eine konzertante Version der Show 2000 in Washington, bei der Nathan Lane mitwirkte. Lane war von dem Stück derart begeistert, dass er in den folgenden Jahren das Buch überarbeitete und zu einem abendfüllenden, zweiaktigen Musical ausbaute. Auch Sondheim erweiterte die Partitur deutlich, bevor diese neue FROGS-Fassung 2004 unter der Regie von Susan Stroman, deren Inszenierung von THE PRODUCERS (2001) maßgeblich zur Renaissance der Musical Comedy im neuen Jahrtausend beigetragen hatte, im New Yorker Lincoln Center Premiere feierte. Lane verkörperte erneut Dionysos, während Xanthias von Roger Bart gespielt wurde.
Wendy Wasserstein betont in den Liner Notes des Cast Albums dieser Produktion, dass THE FROGS eine starke politische Komponente besitze. Schon Aristophanes’ Werk sei eine „politische Satire“, die 1974 in Nachfolge der Watergate-Affäre bei den Yale-Studierenden besondere Resonanz fand. „Frösche sind schleimige, hässliche, ekelhafte Viecher“, erklärt Dionysos etwa im Verlauf des Musicals. „Sie haben riesige Münder und klitzekleine Augen, die zu ihrem klitzekleinen Horizont passen. Sie schleichen sich in dein Hirn […] und sie sind überall.“
„Auf den ersten Blick wirken sie harmlos“, führt der griechische Gott aus, „aber einen Moment später haben sie dich mit ihren Zungen umschlungen und in ihr fortschrittsscheues Universum gezogen. Sie hassen Veränderung. Sie hassen neue Ideen. Sie wollen nur, was gut für sie ist. Und sie wollen, dass alle so wie sie denken. Sie würden uns gerne alle in Frösche verwandeln.“ Die politischen Implikationen dieser Passage sind unverkennbar.
Politische Satire getarnt als Heldenreise
Was zunächst wie eine heiter-groteske antike Heldenreise anmutet, enthält in Wahrheit eine subversive politische Ebene, die Nathan Lane in seiner Version 2004 – als Antwort auf die politischen Spannungen in den Nachwehen des 11. Septembers – besonders herausarbeitete. Ähnlich ging auch Regisseurin Georgie Rankcom vor, deren Inszenierung der FRÖSCHE seit dem 23. Mai 2025 im Southwark Playhouse zu sehen ist (mit „Glee“-Star Kevin McHale in der Rolle des Xanthias).
„I don’t think it’s controversial to say that the world feels broken in many ways at the moment“, schreibt Rankcom im Programmheft. „The political landscape is rocky at best and minority groups are being scapegoated on a daily basis. There is a deep division within society and it can often feel scary to imagine what the next few years hold for any of us.“
Was die aktuelle Londoner Produktion der FRÖSCHE von früheren Revivals unterscheidet, ist ihr vergleichsweise kleiner Rahmen: Es gibt ein durchstehendes Bühnenbild ohne größere technische Veränderungen und auch das Ensemble ist mit zehn Personen (einschließlich Hauptrollen und Solopartien wie Herkules) überschaubar. Dass das Musical auch in kleinem Rahmen und in einer komprimierten Inszenierung bestens funktioniert, zeigen die Rezensionen des Londoner Revivals.
„Wild and gleefully absurd“ – Pressestimmen
„It’s full of great moments“, betont Tim Bano in The Standard. „The show is full of good things and some terrifically clever songs“, schreibt Sarah Crompton auf WhatsOnStage, während Anya Ryan die Produktion bei London Theatre als „wild and gleefully absurd“ lobt. Zur Musik ergänzt Ryan: „Sondheim’s music is unmistakable – with the early song, ‚Invocation‘, overflowing with his usual quick wit and playfulness. But it is the sentimental anthem ‚Ariadne‘ […] that sends the room into breathlessness.“
Weiter heißt es bei Ryan: „[The frogs’] staunch conformity and Earth’s other general horrors can only be battled, Dionysos believes, by the power of art. […] The echoes of contemporary political discourse are loud and clear; at the core of THE FROGS is a tension between Dionysos’s desire for societal reform and the frogs’ complete disgust for new ideas. The question of whether art can challenge entrenched beliefs still rings true today.“
Ein flexibles Musical für die unterschiedlichsten Spielstätten
Egal ob im Schwimmbad, in einer ausladenden Broadway-Produktion wie 2004 mit Nathan Lane oder in einer kleinen, intimen Version vor gerade einmal 250 Zuschauenden wie aktuell in London – Sondheims FRÖSCHE funktionieren auf den unterschiedlichsten Spielstätten und mit den unterschiedlichsten Konzepten. Gleichzeitig liegt hier ein Musical vor, das Songs im besten Sondheim-Stil mit reichlich (teils groteskem) Humor und einer noch immer relevanten politischen Botschaft vereint.
Umso erstaunlicher ist es, dass es bislang noch keine Produktion von THE FROGS in Deutschland gegeben hat – eine deutsche Übersetzung von Timothy Roller liegt seit 2020 vor. Dabei bietet das Musical sowohl Profitheatern als auch Amateuren vielfältige Möglichkeiten und lebt, wie ein Blick in die Inszenierungsgeschichte zeigt, von kreativen Regieideen. Hoffentlich müssen wir nicht mehr allzu lange auf Inszenierungen dieses spannenden Sondheim-Musicals im deutschsprachigen Raum warten.
Text: Dr. Patrick Mertens
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Zum Weiterlesen:
- Stephen Sondheim: „Finishing the Hat“, New York 2010.
- Stephen Citron: „Sondheim & Lloyd Webber: The New Musical“, Milwaukee 2001.