Im Londoner West End kann man diesen Sommer ein ganz besonderes Theaterspektakel beobachten: Tagtäglich zieht es Menschenmassen zum Palladium Theatre im Herzen des Londoner Theaterviertels. Diese Schaulustigen besitzen nicht etwa Tickets für die Produktion von Andrew Lloyd Webber und Tim Rices EVITA, die dort aktuell gezeigt wird. Jamie Lloyds neue Inszenierung der legendären Rockoper ist aber dennoch der Anlass für ihren Besuch.
Innovative Regiekonzepte: Jamie Lloyd und Andrew Lloyd Webber
Durch einen innovativen Regiekniff gelang es dem britischen Regisseur nämlich, das fünfzig Jahre alte Werk zur gefragtesten Londoner Theaterproduktion des Sommers zu machen: Die berühmte Balkonszene – das Herzstück von EVITA – wird in Lloyds Inszenierung auf dem Balkon des Theaters zu den Menschen auf der Straße gespielt. Im Palladium selbst sehen die Zuschauenden lediglich eine Live-Videoübertragung von Rachel Zegler, die als Eva Perón in der Titelrolle des Musicals den Evergreen „Don’t Cry For Me Argentina“ singt.
Dieses Inszenierungsgimmick, das Jamie Lloyd in ähnlicher Form bereits in seiner Neuinterpretation von Andrew Lloyd Webbers SUNSET BOULEVARD zum Einsatz gebracht hatte, funktioniert bei EVITA besonders gut. Immerhin thematisiert die Rockoper des Autorenteams Lloyd Webber/Rice (JESUS CHRIST SUPERSTAR, JOSEPH AND THE AMAZING TECHNICOLOR DREAMCOAT) das Leben der argentinischen Präsidentengattin Eva Perón (1919–1952), die es durch ihre Medienpräsenz geschafft hat, Massen zu mobilisieren – und zu manipulieren.
Straßensperrungen und begeisterte Massen
In London gelingt es nun auch Rachel Zegler, in einer darstellerischen Tour de Force die Massen zu bewegen. Um gute Plätze auf die kostenfrei von der Straße aus zu sehende Balkonszene zu ergattern, warten einige Besucher mehrere Stunden vor dem Theater. Was am 14. Juni 2025, als die Vorstellungen von EVITA begannen, noch eine kleine Schar von Musical-Fans war, ist zum Ende der Produktion am 6. September 2025 zu einer gigantischen Menschenmenge angewachsen. In den letzten Wochen mussten sogar während der Vorstellungen mehrere Straßen gesperrt werden.
Gegen 21 Uhr (sowie donnerstags und samstags gegen 16 Uhr) ist es dann soweit: Rachel Zegler betritt in einem weißen Ballkleid und mit platinblonder Perücke, die einen deutlichen Kontrast zum Rest der modern-minimalistischen Inszenierung darstellen, den Balkon des Palladiums. Während sie den Song „Don’t Cry For Me Argentina“ singt, der bereits bei der Erstveröffentlichung des Werks als Konzeptalbum 1976 in der Interpretation von Julie Covington zum Nummer-eins-Hit avancierte, herrscht andächtige Stille auf der Straße. Selbst aus den angrenzenden Restaurants und Wohnhäusern schauen die Menschen gespannt auf den Palladium-Balkon, der für fünf Minuten zur Casa Rosada, dem argentinischen Präsidentenpalast, wird.
Kostenlose Publicity
Genau wie das argentinische Volk scheinen auch die Londoner durch die Worte Evitas allabendlich in einen hypnotischen Bann gezogen zu werden. Wenn Zegler am Ende des Songs schließlich die Arme in den Himmel reißt und jene berühmte „EVITA-Pose“ zeigt, die schon Elaine Paige und Madonna in der Originalproduktion bzw. der Verfilmung ausgiebig zum Einsatz brachten, bricht vor dem Theater begeisterter Applaus los – ein ebenso eindrückliches wie beklemmendes Beispiel für die verführerisch-manipulative Kraft politischer Agitation.
Die innovative Inszenierung dieser Szene ist einer der Hauptgründe für den aktuellen Erfolg des Musicals. Denn ein Großteil der Menge vor dem Theater hört nicht nur gespannt zu, sondern filmt Zeglers Darbietung (wie von den Produzenten intendiert) mit. Clips der Performance gingen in den Sozialen Medien viral und verhalfen EVITA zu reichlich kostenfreier Werbung. Gleichzeitig zeigt sich in der rasanten viralen Verbreitung der Nummer eindrücklich, wie aktuell die Themen des 1978 in London uraufgeführten Musicals sind.
„Eine Influencerin ohne Social Media“: Ein Blick nach Deutschland
„Wie man die Massen hinter sich schart, darauf verstand sich Eva Perón meisterhaft“, schreibt Birgit Müller-Bardorff in diesem Kontext anlässlich der jüngsten EVITA-Produktion auf der Augsburger Freilichtbühne in der Augsburger Allgemeinen. „Sie war eine Influencerin, ganz ohne Social Media und Internet. Ihre Follower: das Volk von Argentinien, dazu Bewunderer dieser Stilikone in der ganzen Welt.“ Besonders beklemmend sei die Aktualität des Stoffes. Immerhin finde man auch im Hier und Heute genügend Beispiele dafür, „wie Politiker ihr Amt für ihre eigenen Interessen ausnutzen“ (wobei Eva Perón nicht einmal in ein Amt gewählt wurde).
In Leipzig konnte man in der letzten Spielzeit ebenfalls eine Produktion des Musicalklassikers erleben. Moritz Jähnig bezeichnet EVITA in einer Rezension dieser Produktion für das Magazin Kunst und Technik als Stück über „Macht, Mythos und Populismus“, das „Schlaglichter auf eine Figur wirft, die alle Züge einer Populistin trägt“.
Sowohl die jüngsten Inszenierungen in Deutschland als auch die neueste Londoner Produktion unterstreichen, welches Potenzial die Rockoper auch fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung bietet. Mit Themen wie die Verführbarkeit von Massen und die Macht, die Massenmedien wie Radio, Fernsehen oder Social Media Politikern verleihen, ist EVITA aktueller denn je. Man darf gespannt sein, wie Regisseure in Zukunft mit diesem zeitlosen Musical umgehen – die nächste Premiere von EVITA findet am 8. November in der Staatsoperette Dresden statt.
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Text: Dr. Patrick Mertens