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Immer wieder aufs Neue faszinierend

Holger Hauer hat MADE IN DAGENHAM erstmals und I DO! I DO! neu übersetzt. Ein Gespräch dazu.

Holger Hauer (Foto: Britta Pedersen/dpa)

I DO! I DO! am Westchester Broadway Theatre (2011)

MADE IN DAGENHAM im Adelphi Theatre London (2014)

"Wishing for the Normal" aus SOHO CINDERS (London 2019)

PAINT YOUR WAGON (dt. AUF NACH WESTEN!) am New York City Center 2015

BONNIE & CLYDE am Theater Lüneburg (2018)

MURDER BALLAD in Wien (2018)

Holger Hauer ist bei Musik und Bühne einer der Stamm-Übersetzer: Unter anderem ZORRO, ANNIE, BONNIE & CLYDE, MURDER BALLAD, SOHO CINDERS (EIN GROSSSTADTMÄRCHEN) und zuletzt AUF NACH WESTEN! (PAINT YOUR WAGON) wurden von ihm verdeutscht. Über die gerade fertiggestellten Projekte, die erstmalige Übersetzung von MADE IN DAGENHAM und die neue deutsche Fassung von I DO! I DO! (dt. DAS MUSIKALISCHE HIMMELBETT) haben wir mit ihm gesprochen. I DO! I DO! hat in dieser Neuübersetzung am 23. Januar an der Oper Chemnitz Premiere, MADE IN DAGENHAM wird von der Musical Inc. in Mainz ab Mai 2020 gezeigt.

*

Du hast für Musik und Bühne kurz nacheinander die Musicals I DO! I DO! und MADE IN DAGENHAM übersetzt. Gibt es Gemeinsamkeiten?

Nun, die große Gemeinsamkeit ist, wie aber bei allen anderen Stücken auch, dem Original möglichst nahe zu kommen, und dabei die höchst mögliche Qualität in Reim, Versmaß, korrekter Betonung der deutschen gesungenen Worte und Inhalt zu erzielen. Eine immer wieder aufs Neue faszinierende Herausforderung. 
 

Was waren die besonderen Herausforderungen bei diesen beiden Stücken, z.B. im Vergleich zu ANNIE oder ZORRO, die Du vor einigen Jahren für uns übersetzt hast?

I DO! I DO! ist ein Zweipersonenstück und braucht einen sehr persönlichen Ton in der Sprache. Das Stück besteht nur aus intimen Szenen, mal zärtlich und ruhig, mal ironisch, mal böse und laut, aber immer ist es das Gespräch, die Auseinandersetzung derselben zwei Personen. Ebenso anspruchsvoll wie unterhaltsam. MADE IN DAGENHAM ist ANNIE und ZORRO etwas näher. Es gibt große Ensembles mit Schwung und Verve, die sich mit wunderbaren klassischen Balladen abwechseln.
 

Während MADE IN DAGENHAM eine Handlungsdauer von nur wenigen Wochen in den 1960er Jahren hat, erzählt I DO! I DO! die Geschichte einer Ehe über mehrere Jahrzehnte hinweg. Hat das für den Übersetzer eine Bedeutung? Also einerseits die Verankerung in einer genau bestimmten Zeit, andererseits die Entwicklung hin zum Heute? 

Ich habe tatsächlich bei I DO! I DO! darüber nachgedacht, inwieweit sich die Zeitspanne sprachlich niederschlägt. Nach längerem Überlegen habe ich mich dagegen entschieden, die Sprache der Protagonisten im Laufe der Jahre zu modernisieren. Es schleicht sich schon hier und da ein moderneres Wort ein, aber ich glaube, dass sich ein jeder Mensch einen gewissen eigenen Sprachduktus aneignet und erhält. Bei MADE IN DAGENHAM war mehr die Verortung als die Zeitspanne ein Thema. Im Original sprechen die englischen ArbeiterInnen einen starken Arbeiterslang. Ich habe mich entschieden, die Handlung natürlich in Dagenham zu belassen, die Sprache aber ins Ruhrgebiet zu verlegen. So entsteht ein wunderbarer Charme, gepaart mit Witz, und gleichzeitig schaffen wir so einen stärkeren Bezug zu unserer eigenen wirtschaftlichen Situation und den betroffenen Menschen.
 

In MADE IN DAGENHAM wird das Eheleben der Heldin Rita O’Grady mit beleuchtet. Auch wenn das vor rund fünfzig Jahren spielt - mit kommt es vor, als stehe dieses Thema, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder gar politischer bzw. gewerkschaftlicher Tätigkeit der Frau, immer noch genauso auf dem täglichen privaten Spielplan vieler Menschen.

Ganz sicher ist das so. Gerade erst habe ich wieder erfahren, dass Männer, die in Elternzeit gehen wollen, massive Probleme in der Firma bekommen haben. Es gibt leider nach wie vor mannigfaltige Beispiele dafür, dass dieses Thema sowohl für Männer als auch besonders für Frauen höchst aktuell ist.
 

So unterhaltsam gerade MADE IN DAGENHAM ist, hat es doch auch eine bittere Pointe. Was man heute „gender gap“ nennt, also an der unterschiedlichen Bezahlung von Männern und Frauen für dieselbe Tätigkeit, ist auch nach fünf Jahrzehnten noch ein Problem. 

Und auch dies ist ein Problem, welches die Frauen in Dagenham thematisiert haben, aber schlussendlich nicht lösen konnten. Seit dem späten 19. Jahrhundert kämpfen Frauen für gleiche Rechte und gleiche Bezahlung. Um es mit unserer (noch) Kanzlerin zu sagen: Wir haben schon viel erreicht, aber es gibt auch noch sehr viel zu tun.
 

Siehst du als erfahrener Regisseur die Szenen beim Übersetzen quasi vor deinem inneren Auge, inszenierst du also beim Übersetzen?

Eigentlich immer. Ich sehe die Szene, ich sehe die Personen in ihren Kostümen, ich spreche und singe die verschiedenen Rollen mit verschiedenen Stimmen. Ich habe, um ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern, schon ab und an ein paar Tränchen vergossen, wenn mich Momente besonders gefangen genommen haben. Nicht, weil ich denke: Wow, das hast du super übersetzt, sondern weil ich das Gefühl hatte, dass sie auch in Deutsch berühren. 
 

Du bist nicht nur Regisseur und Übersetzer, sondern auch Schauspieler. Wenn du die beiden Musicals betrachtest und könntest dir eine Rolle aussuchen, welche wäre das?

Michael aus I DO! I DO! ist ein absolute Traumrolle für jeden Darsteller. Alle Gefühlsfacetten durch mehrere Jahrzehnte spielen zu dürfen, was will man mehr?
 

Wie fühlt es sich an, wenn eine Übersetzung fertig ist? Und wie fühlt sich die Premiere an, wenn man als Übersetzer im Publikum sitzt?

Um ehrlich zu sein, bin ich nach Abgabe der Übersetzung meistens traurig. Man verabschiedet sich von einer lieb gewonnenen Gefährtin, die einen wochen- oder monatelang gefordert, beschenkt, erbost und beglückt hat. Zur Premiere ist dann alle Trauer vergessen und ich sitze im Theater wie ein kleiner Junge vor dem Weihnachtsbaum, bin furchtbar gespannt und neugierig. Wie werden meine Worte klingen, wenn sie nun zum Leben durch wunderbare Kollegen erweckt werden? Das ist wirklich ein sehr spannender und meistens beglückender Moment. 
 

Die Fragen stellte Jürgen Hartmann, das Interview wurde per E-Mail geführt.


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