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Musical als Gegenwartsanalyse – immer noch überraschend

Etliche Musicals erzählen von politischen oder sozialen Problemen. Auf welche Weise sie es tun, wird zunehmend geschätzt.

AMERICAN IDIOT in Hildesheim (Foto: Theater für Niedersachsen/Falk von Traubenberg)

Das Musical ANYONE CAN WHISTLE treffe „den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts“ perfekt, schreibt Philip Miles Pankow in der Zeitschrift musicals.

Tatsächlich hat die deutschsprachige Erstaufführung des fast sechzig Jahre alten Sondheim-Musicals in Schwerin vielfach überrascht.

In der deutschen Übersetzung und Inszenierung von Martin G. Berger zeigt PFEIFEN KANN DOCH JEDER aktuelle Qualitäten. 

Es geht um „fake news“, um korruptionsgefährdete Politiker*innen und darum, wie man eigentlich normal und verrückt unterscheidet, „wo so wenig heute klar ist“, wie es in einem besonders schönen Duett heißt.

In PFEIFEN KANN DOCH JEDER erlebt man laut musicals einen „kulturellen Kampf, ausgefochten im lokalpolitischen Brennglas, (…) ein Gefecht um Deutungshoheit sowie gesellschaftliche Wahrheitsproduktion“.

Kategorien würden aufgebrochen, „kühle Wissenschaft“ pralle auf „gesellschaftliche Sehnsüchte“. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

 „PFEIFEN KANN DOCH JEDER ist das Musical, das diese Zeit wohl braucht“, heißt es weiter. Die Show sei „eine bitterböse, vielschichtige Gegenwartsanalyse“ – und „wer hätte gedacht, dass das alles mit solcher Leichtigkeit funktionieren kann?“.

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In derselben Ausgabe von musicals zeigt sich Heinz-Jürgen Rickert ähnlich überrascht von AMERICAN IDIOT

„Es geht um Wut, Gewalt, Aggression“, schreibt der Rezensent anlässlich der Neuinszenierung am Theater für Niedersachsen in Hildesheim; das Musical mit der Musik von Green Day tariere sich „zwischen politischem Statement und einer schonungslosen Beschreibung von gesellschaftlichen Problemzonen aus“.

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Musicals wollen, können, sollen unterhalten. Viele Musicals nehmen aber auch brisante historische, politische oder auch soziale Themen auf.

Was Kriege, Bürgerkriege und autoritäre Regime mit und aus den Menschen machen, zeigen DOKTOR SCHIWAGO, IMAGINE THIS, EVITA oder THE BEAUTIFUL GAME.

Gesellschaftliche Missstände im Verhältnis zu Minderheiten thematisieren PARADE und HAIRSPRAY.

Wie die AIDS-Epidemie das New Yorker Milieu junger Künstler beinahe zerstörte, wird in RENT reflektiert.

Dass die Bewältigung von Umweltproblemen bittere soziale Nebenwirkungen haben kann, ist in URINETOWN und THE TOXIC AVENGER zu erleben.

Und was eine psychische Krankheit in einer Familie anrichtet, wird in NEXT TO NORMAL enthüllt.

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Man kann all diese Stücke durchaus als vielschichtige Gegenwartsanalysen – teils im historischen Gewand – lesen, sehen und hören.

Die dem Genre Musical eigene, authentische Erzählweise und emotionale Ansprache, die Verbindung mit guter Musik und die teils offene, teils verschwindend kleine Hoffnung, dass es besser werden könnte, sind nicht die schlechtesten Botschaften für hier und heute.


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