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„Eine Nuss, die zu knacken ist“ – ONE TOUCH OF VENUS in neuer Übersetzung

An der Staatsoperette Dresden ist erstmals die neue deutsche Fassung von Kurt Weills ONE TOUCH OF VENUS zu hören.

Plakatmotiv der Staatsoperette Dresden

Die Staatsoperette Dresden im Kulturkraftwerk

Kurt Weill (Foto: Kurt Weill Foundation)

Kristin Chernoweth singt "I'm a Stranger Here Myself"

Dieses erfolgreichste von Weills Broadway-Musicals (es lief am Broadway 1943-45 567 Mal in Serie) hat es hierzulande bisher schwer gehabt. Insbesondere die Gesangstexte von Ogden Nash galten als kaum übersetzbar. Über diese Problematik und eine heutige Sicht auf ONE TOUCH OF VENUS haben wir mit dem Übersetzer Roman Hinze und dem Regisseur der Dresdner Produktion, Matthias Davids, gesprochen.

 

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Warum ist VENUS bis jetzt gerade in Deutschland so ein „Schmerzenskind“ gewesen?

Roman Hinze: Das hat, so glaube ich, mehrere Gründe. Der amerikanische Weill hat sich in Deutschland nie leichtgetan. Wenn man Weill hört, denkt man gleich immer Brecht mit, ob das nun berechtigt ist oder nicht. Der „Broadway-Weill“ ist aber (zum großen Teil) ganz anders und deshalb für manche Zuschauer*innen, vor allem aber auch für die Entscheider*innen an den Theatern fremd. Die VENUS-Lyrics sind sehr verspielt und haben viele Zeitbezüge, die heute nicht mehr verständlich sind. Da zeigt sich wieder der Unterschied zwischen komödiantischen Lyrics und humoristischen Gedichten. Gedichte kann man nachlesen, und eine komplizierte Struktur und versteckten Anspielungen können nach und nach entdeckt werden. Lyrics müssen beim ersten Hören verstanden werden. Bei VENUS hat man Lyrics, die vielleicht zu viele Aspekte eines Gedichts aufweisen. Die Songs erwachsen auch nicht immer – wie es heute das Ideal im Musical ist – organisch aus der Handlung und treiben sie weiter. Einigen Songs merkt man an, dass sie als Vehikel für bestimmte Darsteller*innen der Uraufführung gedacht waren. Und vielleicht waren die bisherigen Übersetzer dem Original nicht immer gewachsen. Ich hoffe, ich reihe mich nicht nahtlos in diese Riege ein.

 

Habt ihr denn selbst eine Hürde überwinden müssen, um euch mit dem „amerikanischen Weill“ anzufreunden?

RH: Überhaupt nicht! Mir gefällt der amerikanische Weill oft besser als der europäische. Gerade in der Zusammenarbeit mit Brecht musste er sich m. E. musikalisch oft beschränken, da Brecht derjenige war, der den „Style“ der gemeinsamen Stücke geprägt hat. Von Weills Brillanz und Gewandtheit in fast jedem beliebigen Stil wollte Brecht ja gar nichts wissen.

Matthias Davids: Wenn man den amerikanischen Weill hört, ist völlig klar, dass er seinem „deutschen“ Weill einen amerikanischen hinzugefügt hat. Einflüsse von den damals bekannten Komponisten und Teams wie Gershwin oder Hammerstein sind unverkennbar und ergeben für mich Sinn, wenn ich die Musik höre. Es ist eine Mixtur aus Elementen des deutschen Weill und einem Weill, der sich dem amerikanischen Musikgeschmack gekonnt angepasst hat.

 

Empfindet ihr die Story eigentlich als sehr „amerikanisch“?

RH: Was ist denn eine „amerikanische Story“? Eine, die in Amerika spielt? Ja, dann ist es eine amerikanische Story. Eine mit amerikanischen Figuren? Neben diesen gibt es ja die Figuren aus der mythischen Götterwelt, vor allem Venus selbst. Oder eine, die amerikanischen Erzählmustern folgt? Damit sind wir im Musical ständig konfrontiert. Und diese Erzählmuster sind den heutigen Theatergänger*innen durch das US-Kino inzwischen oft vertrauter als europäische Erzähltraditionen. Kurz: Eigentlich kann ich mit der Frage nichts anfangen. Auch Sondheims und Furths COMPANY wurde mir in einem Zuschauergespräch schon als „viel zu amerikanisch“ abgelehnt. Das ist doch kein Qualitätsmerkmal.

MD: Die Story ist dort amerikanisch, wo sie Anspielungen an Vorgänge der 1950er Jahre in Amerika macht. Wenn beim Busbahnhof eine Frau auftaucht, die ihr Baby aus einem Schließfach herausholt, um es zu stillen, dann ist dies eine Anspielung auf „Rosie the Riveter“, eine damals bekannte Figur, heute völlig ohne Bedeutung. Aber das muss man dem deutschen Publikum ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

 

Ist ONE TOUCH OF VENUS womöglich ein bisschen bieder aus heutiger Sicht? Insbesondere der recht kleinbürgerlich angehauchte Schluss?

RH: Der Schluss ist schon eine Nuss, die zu knacken ist. Ein ähnliches Problem gibt es in Weills LADY IN THE DARK. Ich habe da volles Vertrauen in die Kreativität heutiger Regisseur*innen. Es braucht keinen radikalen Eingriff in den Stücktext, um eine angemessene und trotzdem den modernen Zuschauer (und vor allem die moderne Zuschauerin) nicht beleidigende Inszenierungslösung zu finden. Nur eine gute Idee muss man natürlich haben.

MD: In der Tat ist das Stück aus heutiger Sicht bieder, und besonders den Schluss kann man in der Form eigentlich nicht zeigen. Daher liegt die besondere Aufgabe des Regisseurs in einer sanften Aktualisierung, ohne die Intentionen der Autoren zu beschädigen. Ziel ist, mit den Figuren zu fühlen und deren Handlungen und Beweggründe nachvollziehbar darzustellen.

 

Ist VENUS stark in der Entstehungszeit verwurzelt oder gibt es Anknüpfungsmöglichkeiten im Hier und Heute?

RH: Die Idee funktioniert damals wie heute: Die Göttin der Liebe verschlägt es in die moderne Zeit, und sie findet eine Welt vor, in der es die Liebe, wie sie sie kennt, nicht mehr gibt. Ob das nun in 1940er Jahren spielt oder 2019, das macht bei einem Abstand von dreißig Jahrhunderten eher wenig aus. Natürlich gibt es ein paar klischeehafte Details im Plot, an denen man heute „arbeiten“ muss. Zum Beispiel das Ende, darüber sprachen wir ja schon.

MD: In der Tat spürt man sehr stark die Zeit, in der das Werk entstanden ist, nicht zuletzt durch die vielen Anspielungen. Um das Stück ins Heute zu holen, muss man seine Aussage destillieren.

 

Was waren denn die Hauptprobleme bei der deutschen Fassung?

RH: Gesangstexter Ogden Nash ist in den 1930er Jahren vor allem mit Limericks bekannt geworden. Diese scherzhafte Gedichtform bildet eher selten die Grundlage für Songtexte, und das aus gutem Grund. Beim fünfzeiligen Limerick kommt es weniger auf den Inhalt an als auf den humoristischen Effekt durch die Reime und die (im besten Fall) überraschende Schlusszeile. Verspielte Verse wie „New art is true art, old art is cold art“ sind natürlich herausfordernd, da sie Inhalt transportieren, einfacher hat man es als Übersetzer mit „Waschzettel-Songs“, deren relativ beliebig gewählten immer wieder neuen humoristischen Variationen man recht frei nachdichten kann. Erwartungsgemäß macht einem ein Welthit wie „I’m A Stranger Here Myself“ die meisten Probleme – da sitzt man erst einmal ein paar Tage vor dem Original wie das Kaninchen vor der Schlange, bevor man sich herantraut. Ob mein „Ich fühl’ mich fremd in dieser Welt“ nun eine gute deutsche Übertragung ist, müssen andere entscheiden ...

 

Inwieweit beeinflusst eine Übersetzung die Regiekonzeption? Inszeniert man vielleicht manchmal über die Übersetzung hinweg, d.h. man hat eigentlich das Original im Kopf?

MD: Grundsätzlich muss ich mich in meiner Inszenierung natürlich an das Libretto halten, das gespielt wird, und das ist in diesem Fall die deutschsprachige Version. Aber natürlich habe ich immer auch die Originalversion vorliegen, um zu prüfen, ob die Bilder, die der Autor geschaffen hat, eine adäquate Übertragung in die deutsche Sprache gefunden haben. Wenn dem nicht so ist, wird der Übersetzer angerufen.

 

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Matthias Davids studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Sprecherziehung, bald zog es ihn jedoch zur Bühne. Er spielte zahlreiche Rollen – darunter Riff in WEST SIDE STORY und die Titelrolle in JESUS CHRIST SUPERSTAR –, ehe er sich dem Inszenieren zuwandte. Heute ist er einer der renommiertesten Musiktheaterregisseure im deutschsprachigen Raum. Sein SWEENEY TODD an der Volksoper Wien erhielt den Österreichischen Musiktheaterpreis als beste Gesamtproduktion, seine Inszenierung von „In 80 Tagen um die Welt“ (Landestheater Linz) erhielt sechs Auszeichnungen beim Deutschen Musicaltheaterpreis und den Österreichischen Musiktheaterpreis. Seine Liebe zu neuem Material schlägt sich in mittlerweile dreißig Ur- und nationalen Erstaufführungen nieder. Davids arbeitete u. a. an der Komischen Oper, am Theater des Westens und am Friedrichstadtpalast in Berlin, am Gärtnerplatztheater München, an den Staatstheatern Mannheim, Hannover, Kassel und Nürnberg, am Kölner Musical Dome, an der Oper Graz, am Theater St. Gallen, an der Maag Musical Hall Zürich, am Norske Teatret Oslo, am Theater Tromsø und am Herodes-Attikus-Theater in Athen. Seit Dezember 2012 ist Matthias Davids Künstlerischer Leiter der Sparte Musical am Landestheater Linz.

Arne Beeker (aka Roman Hinze) studierte Mathematik und Physik in Münster und promovierte in Theoretischer Physik mit einem Thema aus der nichtlinearen Dynamik (Chaostheorie). Parallel zu seiner Arbeit als Lehrer an einem Kölner Gymnasium begann er, unter dem Namen Roman Hinze für Musik und Bühne und andere Verlage Musicals zu übersetzen. Anlässlich der Eröffnung des Musiktheaters Linz übernahm er 2012 die Position des Dramaturgen und Produktionsleiters für die Produktionen der neu gegründeten Musicalsparte des Landestheaters Linz. Parallel übersetzt er weiter Musicals, inzwischen über dreißig, darunter Werke von George & Ira Gershwin (u.a. WINTERGREEN FOR PRESIDENT), Kurt Weill (LADY IN THE DARKONE TOUCH OF VENUS), David Yazbek, Lynne Ahrens & Stephen Flaherty (RAGTIME), Maury Yeston, Jerome Kern & Oscar Hammerstein II, George Stiles & Anthony Drewe (PETER PANDIE DREI MUSKETIERE), Frank Wildhorn (DRACULA) und Stephen Sondheim (PASSION). Zuletzt erarbeitete er die deutschen Fassungen von Dave Malloys "Préludes" sowie BETTY BLUE EYESTHOROUGHLY MODERN MILLIE und MARGUERITE.


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